Ein Autist in der GROSSSTADT

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In Venedig gab es heuer einen Überraschungssieger: "Desde allá" von Lorenzo Vigas erzählt nur vordergründig eine Homosexuellengeschichte.

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In Venedig gab es heuer einen Überraschungssieger: "Desde allá" von Lorenzo Vigas erzählt nur vordergründig eine Homosexuellengeschichte.

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Wenn Armando (Alfredo Castro) in seiner unauffälligen Kleidung durch die Straßen von Caracas streift, dann ist er auf der Suche nach Nähe, und doch hält er die Distanz. Armando, ein Mann in reiferen Jahren, steckt jungen knabenhaften Männern viel Geld zu und nimmt sie mit zu sich, aber er fasst sie nicht an; seine Befriedigung geschieht aus der Ferne, er lässt die Burschen ihre Kleider ablegen, aber mehr passiert nicht.

Vieles in Lorenzo Vigas' Langfilmdebüt "Desde allá" ("From Afar") bleibt distanziert, weil der nüchtern inszenierte und in blassen Farben gehaltene Film von einer emotionalen Unterkühlung erzählt, unter der seine Hauptfigur leidet. "Es ist ein Mann, der verlernt hat, was Nähe bedeutet", erläutert Regisseur Vigas im Gespräch mit der FURCHE. "Er kann keine emotionale Beziehung zu anderen aufbauen, wirkt wie ein Autist, verloren in der Großstadt. Zugleich will er seine Bedürfnisse ausleben. Ein innerer Konflikt, der mich sehr fasziniert hat". Nachsatz: "Das ist kein Film über Homosexuelle, sondern ein menschliches Drama über die Unfähigkeit zur Nähe".

Erster Film aus Venezuela in Venedig

Diese Geschichte hat nun in Venedig beim 72. Filmfestival den Goldenen Löwen erhalten. Die Jury unter dem Vorsitz des Mexikaners Alfonso Cuarón ("Gravity") entschied sich überraschend für diesen Film. Überraschend deshalb, weil die Favoriten zwar uneindeutig waren, aber niemand mit dem kleinen Drama - dem ersten venezolanischen Film im Venedig-Wettbewerb überhaupt gerechnet hätte. Ein Sieg für Südamerika, dank eines südamerikanischen Jury-Präsidenten? Die Optik täuscht, denn Cuarón musste ja noch andere Jurymitglieder aus aller Welt - Diane Kruger aus Deutschland etwa, Pawel Pawlikowski aus Polen oder Nuri Bilge Ceylan aus der Türkei - überzeugen.

"Desde allá" hat durchaus seinen Reiz. Formal besticht die Arbeit durch ihre verwaschenen Bilder über eine sonst so farbenfrohe Nation, in der für die Einwohner seit Hugo Chavez' Tod Perspektivenlosigkeit herrscht. Auch Vigas meint, dass "Chavez etliche Ideen für sein Volk hatte. Gute Ideen". Doch dann will er lieber über seinen Film sprechen, denn er weiß: Chavez ist im Westen heftig umstritten, vielleicht auch, weil man die landesinnere Befindlichkeit zu wenig kennt. "Ich bin sicher, unser Land besiegt seine Probleme und die hohe Inflation", sagt Vigas. "Wir mussten sehr schnell drehen, denn die Fördergelder für unseren Film wurden von Tag zu Tag weniger wert."

Lorenzo Vigas, Sohn des venezolanischen Malers Oswaldo Vigas, hat die bravouröse Arbeit seiner beiden Darsteller in breitwandige, wohl überlegte Bilder gepackt. "Die Bildsprache ist mir als Sohn eines Malers besonders wichtig", sagt er. Vor dem Hintergrund einer rein künstlerischen Entscheidung durch die Jury geht der Hauptpreis für "Desde allá" in Ordnung, wenngleich Alberto Barberas Filmauswahl durchaus attraktivere Filme zu bieten hatte.

Zum Beispiel "Anomalisa" (Großer Preis der Jury) von Charlie Kaufman und Duke Johnson, ein beeindruckender Stop-Motion-Film auf Basis eines Kaufman-Stückes. Oder Laurie Andersons stimmiger, beinahe meditativer Filmessay "Heart of a Dog", in dem die Witwe von Lou Reed über das Leben, den Tod und 9/11 nachdenkt. Der Film ging ebenso leer aus wie Amos Gitais spröde, aber brisante Polit-Semi-Doku "Rabin, the Last Day", die den letzten Tag im Leben des israelischen Premiers nachzeichnet. Ohne Preis blieb auch Aleksandr Sokurow (er gewann 2012 für "Faust" den Goldenen Löwen) für sein famoses Louvre-Museumsporträt "Francofonia".

14-Jähriger spielt Kindersoldaten

Einen Preis gab es indes für "El Clan"(beste Regie) des Argentiniers Pablo Trapero, der von einer in den 80er-Jahren als Entführer arbeitenden Familienbande erzählt. Den Spezialpreis der Jury erhielt der Türke Emin Alper für seinen zweiten Spielfilm "Abluka", eine düstere Dystopie der zukünftigen Türkei. Bei den Schauspielern machten der Franzose Fabrice Lucchini ("L'hermine") und die Italienerin Valeria Golino ("Per amor vostro") das Rennen, als Nachwuchsmime wurde der 14-jährige Abraham Attah für seinen Rolle als Kindersoldat in Cary Fukunagas Drama "Beasts of No Nation" prämiert. Übrigens der erste von Netflix produzierte Kinofilm. Dass Netflix jetzt wirklich Geld in Filmkunst steckt, darf aber angezweifelt werden. "Beasts of No Nation" operiert höchst einnehmend mit den handelsüblichen Zutaten des Mainstreams. Auch deshalb ist "Desde allá" ein würdiger Preisträger: Im Mainstream hätte er keinen Platz.

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