Ein Wurm für Horowitz

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Was macht der russische Tastengott anders als Gulda? Gerhard Widmers künstliche Intelligenzen haben es mühevoll gelernt - und dank Mustererkennung weitgehend begriffen.

Die zarten Klänge Chopins sollten frei und luftig durch den Großen Festsaal schweben. Doch plötzlich wird gestemmt. "Do you hear this noise?", fragt der Referent von seinem Pult herab ins Auditorium. Aus aller Welt waren sie hierher gekommen, zum "18th European Meeting on Cybernetics and Systems Research" (EMCSR) an die Universität Wien. Doch dann, mitten in die kühnen Visionen von "Intelligent computing for music and musicology", ein dumpfes Hämmern aus dem Untergrund...

Kann passieren, meint Gerhard Widmer später achselzuckend. Auch ein paar Straßen weiter, im Schottenstift auf der Wiener Freyung, ist man von absoluter Ruhe weit entfernt. Passantenlärm und Autohupen dringen herauf in die Räume des "Austrian Research Institute for Artificial Intelligence". Doch der akribischen Erforschung selbst geringster Lautstärke-und Tempo-Schwankungen soll das keinen Abbruch tun.

Vermessene Musik

Im Zentrum steht die klassische Musik - und einmal mehr Frédéric Chopin. "Wir hören den Anfang seiner Etüde Opus 10, Nummer 3 in E-Dur", erklärt der Informatiker in seinem Büro, "gespielt von einem Pianisten der Wiener Musikhochschule auf einem Bösendorfer Computerflügel, der jede einzelne Tastenbewegung, jede Hammerbewegung und jede Pedal-Bewegung exakt vermisst und speichert."

Auf diesem Wunderwerk der Technik hat der Pianist Roland Batik 13 vollständige Mozart-Klaviersonaten eingespielt. Doch was genau spielt Batik, wenn er in die Tasten greift? Was macht er anders als Friedrich Gulda, Arthur Rubinstein oder Vladimir Horowitz? Und: Gibt es Regeln, an die sich alle Klassik-Interpreten - bewusst oder unbewusst - halten?

Schon die meisten Menschen scheitern an dieser Fragestellung. Wie schwer erst muss sie kreativitäts-und empfindungslosen Computern fallen? "Musik ist eben ein unwahrscheinlich komplex strukturiertes Artefakt", betont der 45-jährige Widmer. "Wahrnehmung ist ja insgesamt mehr, als bloß Sinnesreize aufzunehmmen. Und Musikhören ist mehr, als nur die Noten zu hören." Ein Musikstück bestehe vielmehr aus Motiven, die sich wiederholen und variiert werden könnten. Während das menschliche Gehirn imstande sei, solche Strukturen mühelos zu dechiffrieren, sei dies für einen Computer ein Ding der Unmöglichkeit.

Zumindest fast: Schließlich ist es Widmer und seinem Team gelungen, künstliche Intelligenzen durch einen speziellen Lern-Algorithmus - und die Fütterung mit Unmengen von Musik-Daten - in das Geheimnis ausdrucksvoller Interpretation einzuführen. "Um einzelne Pianisten analysieren zu können, haben wir auch eine neue Form von Visualisierung entwickelt", erzählt Gerhard Widmer - und lässt mit einem Klick ein wurmartiges Gebilde am Monitor entstehen. Rund 15 Tastenvirtuosen haben solcherart ein individuelles Muster ihres Spiels erhalten - von Widmers Liebling, Sviatoslav Richter, bis zum großen Horowitz. Um das höllisch-variable Tempo von Horowitz und Co. überhaupt vermessen zu können, war freilich auch ein spezieller "Beat-Tracking-Algorithmus" nötig: Durch ihn schafft es der Computer, Temposchwankungen zu erkennen und (weitgehend) den exakten Takt zu schlagen. Inzwischen ist der maschinelle Lernprozess schon weit gediehen: Selbst wenn der Computer mit Mozart-Sonaten übt und später Chopin zum Test bekommt: Den Horowitz darunter findet er fast immer. "Mittlerweile haben wir schon Erkennungsraten von bis zu 90 Prozent", freut sich der "Trainer".

Schon als Kind war der gebürtige Vorarlberger in die faszinierende Welt der Musik abgetaucht. "Ich habe acht Jahre lang Klavier gelernt - und hätte nach dem Wunsch meines Lehrers auch Pianist werden sollen. Aber ich war dann zu faul." Mit 15 Jahren will der neugierige Knabe von Klassik nichts mehr wissen - und beginnt sich umso mehr für Computer zu interessieren. Nach der Matura beginnt er an der Technischen Universität Wien das Informatik-Studium - und geht danach als Fulbright Scholar an die University of Wisconsin. "Dort habe ich auch Musiktheorie und Jazz studiert", blickt Widmer zurück. Und in den USA greift er auch wieder in die Tasten - als Jazz-Pianist.

Doch die europäische Kultur zieht ihn zurück: 1986 wird Widmer Leiter der Gruppe für Maschinelles Lernen am (privaten) "Austrian Research Institute for Artificial Intelligence" in Wien. Später zeigt er auch am Institut für Medizinische Kybernetik und Artificial Intelligence der Universität Wien Ambitionen.

1998 schließlich bewirbt sich der junge Spitzenwissenschafter um den START-Preis - und bekommt prompt 870.000 Euro für seine bahnbrechenden Forschungen zuerkannt. Mit dem Geld holt er junge, brillante Kollegen aus London und Australien nach Wien - und hat Gelegenheit, tief zu schürfen. "Mit diesem Geld haben wir es gewagt, enorm viel Zeit und Aufwand in das Vermessen von Musikaufnahmen zu investieren", erinnert sich Widmer.

Neugierige Industrie

Ein Wagnis, das Früchte trägt: 17 "Aussprache-Regeln" klassischer Musik-Interpretation hat das START-Team entdeckt. Beispiel gefällig? Gehen zwei kurze Noten einer langen, betonten voraus, wird die zweite kurze Note meist etwas länger gehalten. Neben solchen Erkenntnissen tun sich freilich auch praktische Anwendungsmöglichkeiten auf: "Die Visualisierung von Interpretationen kann man in der Musikpädagogik verwenden", ist Widmer überzeugt, "und die Festellung eines Rhythmus braucht man überall dort, wo es darum geht, Musikaufnahmen mit anderen Medien zu synchronisieren". Auch die Industrie zeigt Interesse an den musikalischen Maschinen - schließlich geht es im boomenden Online-Musikmarkt darum, aus Millionen von Audio-Dateien die passenden aufzustöbern.

Bis es so weit ist, bleibt dem Visionär freilich Zeit genug zum Tüfteln - hier auf der Freyung oder in Linz, wo er vor zwei Jahren Gelegenheit bekommen hat, an der Johannes-Kepler-Universität ein "Department of Computational Perception" aufzubauen. Den Spielereien sind hier wie dort keine Grenzen gesetzt: So hat Widmers Team bei einem Wettbewerb für Computer-Musikinterpretation in Tokio den zweiten Preis errungen. "Es geht uns aber nicht darum, einen künstlichen Pianisten zu bauen", meint Widmer lächelnd, während der Verkehrslärm durch die Fenster dringt. "Ein Horowitz bleibt schließlich unerreicht."

Nächste Woche: Susanne Kalss

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