Einsparungen in Milliardenhöhe?

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Streitthema Medikamente ohne Rezept: Eine Lockerung ist im Sinne des mündigen Patienten, meint die Apothekerkammer. Die Ärztekammer ist dagegen.

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Streitthema Medikamente ohne Rezept: Eine Lockerung ist im Sinne des mündigen Patienten, meint die Apothekerkammer. Die Ärztekammer ist dagegen.

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Die Kosten im Gesundheitssystem wachsen kontinuierlich. Möglichkeiten zur Einsparung werden derzeit in allen Bereichen der Medizin unter die Lupe genommen.

Auch bei den Ausgaben für Medikamente wird der Rotstift angesetzt und der Selbstbehalt für Arzneimittel laufend erhöht. Betrug die Rezeptgebühr 1994 noch 32 Schilling, so muß man heute 44 Schilling pro Packung bezahlen. Nicht zuletzt wird deswegen über Ausgaben für Medikamente diskutiert, da mit zunehmendem Alter der Arzneimittelverbrauch überproportional zunimmt (siehe auch Grafik) und durch die steigende Lebenserwartung hier für die Zukunft enorme Kosten zu erwarten sind.

Die Ausgaben der österreichischen Krankenversicherungen für Heilmittel betrugen 1997 rund 20 Milliarden Schilling. Mit 17 Prozent der Gesamtkosten im Gesundheitsbereich liegen die Aufwendungen für Medikamente somit an dritter Stelle nach den Arzt- und Krankenhaushonoraren.

Der steigende Selbstbehalt bei Medikamenten ist jedoch nicht der einzig gangbare Weg um bei Arzneimittel Kosten einzusparen. Diskutiert wird auch eine verstärkte Selbstmedikation: der Patient besorgt sich ohne vorhergehenden Arztbesuch das Medikament in der Apotheke und bezahlt es auch selbst.

Österreich liegt bei der Selbstmedikation im Vergleich zu anderen europäischen Ländern im Schlußfeld. Nur etwa acht Prozent der über 5.000 Präparate können in den Apotheken ohne Rezept direkt gekauft werden. Zum Vergleich: in der Schweiz sind über 25, in Großbritannien über 20 und in Deutschland immerhin rund 18 Prozent der Arzneien rezeptfrei erhältlich. Renner sind Mittel gegen Schmerzen, Atemwegserkrankungen, Rheuma, Magen-Darm-Beschwerden und krampflösende Arzneien.

"Selbstmedikation hat in Österreich also eine vergleichsweise geringe Bedeutung, da in der Vergangenheit eine relativ restriktive Arzneimittelpolitik betrieben wurde", berichtet Universitätsprofessor Engelbert Theurl vom Institut für Finanzwissenschaft der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck.

Milliarden einsparen Theurl untersuchte im Auftrag der Pharmig (Vereinigung pharmazeutischer Unternehmen) in seiner aktuellen Studie "Volkswirtschaftliche Aspekte und Effekte einer Verstärkung der Selbstmedikation in Österreich" Einsparungsmöglichkeiten durch verstärkte Selbstmedikation. Ergebnis: entließe man in Österreich eine Reihe bewährter Substanzen aus der Rezeptpflicht, würde dies die heimische Volkswirtschaft und die sozialen Krankenversicherungen um Milliarden entlasten.

Die Selbstmedikation wäre, so Theurl, aber nicht nur eine Umverteilung der Kosten von den Krankenkassen auf die Patienten: "So kommt es in dem Ausmaß, in dem durch Selbstmedikation Arztbesuche tatsächlich vermieden werden können, nicht nur zu einer Ausgabenverlagerung, sondern zu einer echten Kosteneinsparung. Ähnliches gilt für eventuelle arztbesuchsbedingte Absenz vom Arbeitsplatz."

Würden - nach vorsichtigen Schätzungen - fünf Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben durch den freien Verkauf in den Apotheken die Patienten selbst übernehmen, könnten sich die Krankenversicherungen etwa 700 Millionen Schilling pro Jahr ersparen.

Zehn Prozent der Arztbesuche wären durch Selbstmedikation nicht mehr notwendig: eine Einsparung von über 1,2 Milliarden Schilling. "Das sind etwa 3,5 Prozent der jährlichen Ausgaben der sozialen Krankenkassen für Ärzte", so der Finanzexperte. Das Fehlen am Arbeitsplatz wegen Arztbesuche schlage mit weiteren 1,6 Milliarden Schilling zu Buche.

Die Apothekerkammer sieht die verstärkte Selbstmedikation naturgemäß positiv. Vizepräsidentin Christiane Körner: "Eine Lockerung mit Maß und Ziel wäre sicherlich im Sinne des mündigen Patienten. Allerdings muß die Beratung immer gewährleistet sein." Zustände wie etwa in den USA, wo Medikamente zum Teil im Supermarkt erhältlich sind, wünscht sich Körner für Österreich nicht (siehe auch Dossier Nr. 22).

Durch die umfangreiche Ausbildung des Apothekers (die durchschnittliche Studiendauer des Pharmaziestudiums liegt derzeit bei 16 Semester), so Körner, wäre gerade im Bereich Selbstmedikation für den Patienten eine umfassende Beratung gewährleistet. Der Apotheker weiß, in welcher Form Wechsel- und Nebenwirkungen auftreten könnten.

"Aber auf dem Gebiet der Erkennung von Krankheiten haben Apotheker keine wie auch immer geartete Ausbildung", verwehrt sich der Präsident der Oberösterreichischen Ärztekammer Otto Pjeta gegen den Vorstoß der Apothekerkammer. Daher sei ein vorhergehender Arztbesuch im Krankheitsfall unbedingt notwendig. Auch ist Pjeta überzeugt, daß bei einer Ausweitung der Selbstmedikation in weiterer Folge Medikamente auch an Tankstellen vertrieben würden.

Reines Zahlenspiel "Ich sehe derzeit keinen Anlaß für die Ausweitung der Selbstmedikation und kann mich auch sicher nicht der Studie von Professor Theurl anschließen," meint Pjeta. "Man kann in diesem Bereich nicht einfach nur nach volkswirtschaftlichen Kriterien vorgehen."

Der Finanzwissenschafter Theurl, so die Kritik des Landarztes Pjeta habe beispielsweise in keinster Weise die Nachfolgekosten durch falsche, versäumte oder zu späte Behandlung berücksichtigt. "Das ist ein reines Zahlenspiel. Ich weiß", so Pjeta, "daß die Selbstmedikation ein Hoffnungsmarkt der Pharmaindustrie ist. Aber in Frankreich, wo Medikamente stark beworben und auch viele eingenommen werden, sind die Menschen auch nicht gesünder. Es kann doch nicht unser Ziel sein, daß Menschen mehr Medikamente einnehmen."

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