Stacheldraht Gefängnis - ©  ErikaWittlieb / Pixabay

Heinrich Gross: Die Leichen im Keller des BSA

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Da hilft kein Schweigen mehr: Mit Heinrich Gross haben sich SPÖ und BSA im wahrsten Sinn des Wortes etwas angetan.

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Da hilft kein Schweigen mehr: Mit Heinrich Gross haben sich SPÖ und BSA im wahrsten Sinn des Wortes etwas angetan.

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Es gibt Bücher, die einen heiligen Zorn gegen Verlogenheit und Doppelmoral entfachen können. Die Parallelbiographie von Oliver Lehmann und Traudl Schmidt über den NS-Arzt Dr. Heinrich Gross ist eines davon. Und die Warnung "Vorsicht, dieses Buch kann ihre Einschätzung der Zweiten Republik verändern" dürfte nicht fehlen.

Bereits 1977 hat der Journalist Peter Michael Lingens einen Artikel über die Morde des Doktors vom Spiegelgrund Heinrich Gross mit der Überschrift versehen: "Gut, dass ich kein Terrorist sein will". Seit Jahrzehnten beherrscht die Debatte über den NS-Arzt die österreichische Öffentlichkeit. Alle, die an Gerechtigkeit glauben wollen, müssen die Ohnmacht empfinden. Dass das Verfahren gegen Dr. Gross bisher nicht wieder aufgenommen wurde, ist jedoch kein Zufall: Er hatte gute Freunde auf der richtigen Seite (beim BSA und in der SPÖ), und seine Taten betrafen vor allem Behinderte.

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Die beiden Journalisten erzählen in ihrem Buch die Geschichte zweier Menschen. Sie berichten über den unaufhaltsamen Aufstieg des Dr. Gross und die Geschichte des Scheiterns von Friedrich Zawrel, den der Arzt dreimal begutachtet und behandelt hat. 1975 sorgte er dafür, dass der Patient, der ihn erkannte und über sein Vorleben auf dem Spiegelgrund Bescheid wusste, wieder hinter Gitter kam. Wegen einer Schadenssumme von 20.000 Schilling wurde Zawrel aufgrund des Gutachtens von Heinrich Gross zu sechs Jahren mit anschließender Einweisung auf zehn Jahre in eine Anstalt für gefährliche Rückfalltäter verurteilt. Friedrich Zawrel, die Beständigkeit, mit der dieser wegen Kleinkriminalität verurteilte Mann Behörden und Persönlichkeiten mit Briefen über die Vergangenheit des Heinrich Gross konfrontierte, hat letztlich den Stein ins Rollen gebracht. Viele sind seitdem mit ihm beschäftigt, doch die Bemühungen gleichen jenen des Sisyphus. Gegen Freunderlwirtschaft und falsche Scham war einfach nicht anzukommen.

Erstmals wird nun durch dieses Buch die volle Tragweite des Falles Gross und die Rolle seiner Förderer im BSA (Bund Sozialistischer Akademiker) klar. Denn noch in den achtziger Jahren, als bereits bewiesen war, woher Gross' Präparatesammlung stammte (es waren die Gehirne der ermordeten Kinder vom Spiegelgrund), bekam der Arzt über das für ihn geschaffene "Ludwig Boltzmann Institut zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems" immer weiter Geld für seine Forschungen.

Die SPÖ und der BSA haben sich daher schwer getan mit einer Distanzierung. Manche tun sich bis heute schwer und verweigern zum Beispiel Interviews. So etwa Sepp Rieder. Das Beispiel des BSA Salzburg, der einem Historiker vorbehaltlos Zugang zu seinen Akten gewährte, bleibt die Ausnahme. Es ging um den sozialdemokratischen Versuch, der CV-Übermacht "neue" akademische Kader entgegenzustellen, wobei man nicht immer wählerisch war (und sein konnte), was deren Vergangenheit betraf.

Lehmanns und Schmidts Buch ist zunächst ein erschütternder Bericht über eine Existenz am Rande vor, während und nach der NS-Zeit. Es macht einmal mehr deutlich, dass der Eindruck nicht trügt: Durch die ausgiebige öffentliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus kann man sich auch der Verpflichtung entheben, die ungeschminkte Geschichte der Zweiten Republik zu schreiben. Die Scheinheiligen, die bei Gross weggeschaut, ihn unterstützt und geehrt haben, haben in dieser Geschichte einen sicheren Platz. Da lässt sich jetzt nichts mehr verschweigen.

Wie das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern im BSA funktionieren konnte, welche Mechanismen sich dabei entwickelten, diese und ähnliche Fragen werden noch zu erforschen sein. Vorerst bleibt ein heiliger Zorn, dass dieser Täter offensichtlich seiner Strafe entgeht. Und dass die Auszeichnung, die Gross von der Republik Österreich bekam, höheren Rang genießt als jene, die der Leiter des US-Militärgeheimdienstes Charles Haywood Dameron erhielt, der maßgeblich an der Aufdeckung der Verbrechen im Schloss Hartheim beteiligt war.

Dass Heinrich Gross nicht der einzige war, der seiner Strafe entging und dass es noch andere Ärzte seines Kalibers in Österreich gibt, schmerzt umso mehr. Umso wichtiger ist aber dieses Buch.

Friedrich Zawrel wächst in einer Familie ohne Vater auf. Hunger steht auf der Tagesordnung. Die Familie wird 1935 delogiert und das Heimleben des Sechsjährigen, getrennt von den Geschwistern, beginnt. Bei den Pflegeeltern ist es nicht besser. Kinderarbeit in Simmering. Als Friedrich kein Hasenfutter mehr findet, muss er von der Schule wegbleiben, um seinen "Aufgaben" nachzukommen. Als die Lehrerin nachfragt, bekommt er von der Pflegemutter Schläge. Es werden nicht seine letzten sein.

Weitere Stationen in Heimen folgen, regelmäßig flieht Friedrich, sucht die Mutter, sein Karteiblatt füllt sich mit Einträgen. Gleichgültig, wo er untergebracht ist, in den Heimen werden die Kinder von den Schwestern schikaniert und malträtiert und zu kleinen Bestien erzogen. Am 21. Jänner 1941 wird Friedrich in die Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" eingewiesen. Im Gutachten ist von "sozialer Depravation" die Rede. Dieses Brandmal wird er nie wieder los.

Friedrich wird Zeuge der Euthanasie. Als er nach Ybbs gebracht wird, merkt er eines Morgens, dass der Saal mit den Behinderten leer ist: abtransportiert nach Hartheim. Wenn er im Radio der Pfleger von "Frontbegradigung" hört, applaudiert er: "Der Stalin treibt sie weg". Friedrich Zawrel kommt in eine Einzelzelle und kann mit Hilfe einer Schwester abermals fliehen. Nach einer abermaligen Verhaftung lernt er den Terror in der Jugendstrafvollzugsanstalt Kaiserebersdorf kennen. Im März 1945 werden die halbverhungerten Jugendlichen wie Vieh in Schleppschiffen auf der Donau nach Regensburg "evakuiert".

Es gelingt Zawrel im befreiten Österreich zwar immer wieder, Fuß zu fassen, doch seine Vorstrafen und ein gewalttätiger Alkoholiker als Vater sind keine Basis für einen Neuanfang. Sein Karteiblatt wird weitergeführt. Gutachter Gross stützt sich auch auf die noch aus der Nazizeit vorhandenen "Gutachten". Damals hieß es noch: "Er stammt aus einer erbbiologisch und soziologisch minderwertigen Familie".

Der aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Gross tauchte unter, als der Stationsschwester Anna Katschenka, der er in vielen Fällen die Anweisung zur Tötung "unwerten Lebens" gegeben hat, der Prozess gemacht wurde. 1948 wird er verhaftet, 1950 zu zwei Jahren verurteilt, ein Jahr später wird das Verfahren jedoch wieder aufgenommen und die Anklage zurückgelegt. Keine zwei Wochen nach der Einstellung stellt Dr. Gross den Antrag auf Aufnahme in den BSA.

Einer seiner Förderer war Alfred Giesel, ein ehemaliger Assistent jenes Eduard Pernkopf, der die Körper von Naziopfern für seinen berühmt-berüchtigten Anatomieatlas verwendete. Giesel war mit Gross in russischer Kriegsgefangenschaft und ist in den fünfziger Jahren SPÖ-Mandatar im Gemeinderat. Er hält große Stücke auf Gross und will ihm eine Dozentur verschaffen. Ein Professor meinte damals "Das sollte man dem Mann nicht antun. Nicht weil er nicht gut wäre, aber weil alles wieder aufgerollt würde." Wer es wissen wollte, wusste auch damals, welche Leichen Gross im Keller hatte. Oliver Lehmann und Traudl Schmidt rollen das alles nun endlich tatsächlich wieder auf. Die Leichen im Keller des Dr. Gross erweisen sich nun auch als Leichen im Keller des BSA. SPÖ und BSA tun sich schwer mit diesen Leichen. Manch einer verweigert bis heute jede Auskunft. Sepp Rieder zum Beispiel, oder der ehemalige Magistratsdirektor der Stadt Wien Josef Bandion.

Buch

In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel

Von Oliver Lehmann und Traudl Schmidt
Czernin Verlag, Wien 2001
211 Seiten, geb., EUR 18.-

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