Die Geschichte neu schreiben

19451960198020002020

Wie die Jahresringe eines Baumes erzählen die Ausgrabungsschichten der altägyptischen Stadt Avaris die Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes.

19451960198020002020

Wie die Jahresringe eines Baumes erzählen die Ausgrabungsschichten der altägyptischen Stadt Avaris die Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes.

Werbung
Werbung
Werbung

Zu den Insektenschwärmen und dem schlechten Wetter kam das Unverständnis und die Herablassung der Fachkollegen. Der Platz, den der damals 25jährige österreichische Archäologe Manfred Bietak 1965 im Nildelta als Grabungsort ausgewählt hatte, entsprach nicht den Vorstellungen der etablierten Fachkollegen jener Zeit: In Tell el-Daba waren keine erhabenen Monumente oder großartigen Kunstwerke im Boden verborgen, bestenfalls bronzene Grabbeigaben, verzierte Keramik und ein paar Juwelen. Zumeist aber schlecht erhaltene Schlammziegelmauern, Scherben, Abfälle. "Nun, es ist ja ganz interessant hier. Sie werden jetzt wohl drei Kampagnen graben und sich etwas Besseres suchen", säuselte Serge Sauneron, ein französischer Ägyptologe. Doch bald begann der wahre Wert dieses Grabungsplatzes durchzuschimmern. "Respekt, Herr Kollege, aus Schiete machen sie Konfekt", gratulierte der deutsche Ägyptologe Hans-Wolfgang Müller in seiner typisch direkten Art.

Tell el-Daba erwies sich als historische Quelle ersten Ranges. Denn Bietak hatte nicht weniger als Avaris, die Hauptstadt der Hyksos-Zeit (1640 bis 1530 v. Chr.) entdeckt, die bislang in Tanis, 30 Kilometer nördlich, vermutet worden war. Bei jener Epoche zwischen dem Mittleren und dem Neuen Reich handelt es sich um eines der am wenigsten bekanntesten Kapitel der altägyptischen Geschichte. Mittlerweile ist Bietak seit 13 Jahren Vorstand des Instituts für Ägyptologie an der Universität Wien - und noch immer trägt seine glückliche Wahl Früchte. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Grabungen in Tell el-Daba könnten sogar wesentlich dazu beitragen, für die bronzezeitlichen Kulturen des gesamten östlichen Mittelmeerraumes zu einer übereinstimmenden Chronologie zu kommen.

Avaris wurde während der Regierungszeit von Amenemhet I. (1977 bis 1944 v. Chr.) gegründet, jenem Pharao, der Ägypten zum zweiten Mal einte und damit das Mittlere Reich begründete. Nicht nur Ägypter, sondern auch Einwanderer aus Kleinasien wurden in der rasch wachsenden Stadt im Nildelta angesiedelt. Denn die Nachfolger von Amenemhet I. holten Bewohner des syrisch-palästinensischen Raumes als Soldaten und Seeleute ins Land. Einige stiegen weit auf in der Beamtenhierachie des Mittleren Reiches; es waren Kleinasiaten, die den Außenhandel organisierten, die Leitung von Handels- und Kriegsexpeditionen übertragen bekamen und die Aufgaben einer Küstenwache übernahmen.

Um 1700 v. Chr. kam es in Avaris zu einem Putsch, die Kleinasiaten machten das Handelszentrum zur Hauptstadt eines unabhängigen Königreiches. Stück für Stück brachten sie ganz Ägypten unter ihre Kontrolle; als Schicht von Berufssoldaten waren die Kleinasiaten den Ägyptern militärisch weit überlegen. 1640 v. Chr. blieb vom einst mächtigen Mittleren Reich nur das Königreich Theben übrig, degradiert zum tributpflichtigen Vasallenstaat. Von da an hießen die Kleinasiaten Hyksos, "Herrscher der Fremdländer".

Die Hyksos-Zeit wurde von früheren Ägyptologen-Generationen fälschlicherweise als Barbarenherrschaft betrachtet. Doch die Hyksos waren als eingewanderte Minderheit ziemlich ägyptisiert; sie bedienten sich der ägyptischen Hieroglyphen, auch in Kunst und Wissenschaft kam es unter ihrer Herrschaft keineswegs zu einem Niedergang. Außerdem revolutionierten die Hyksos die Waffentechnik: Streitwagen, Panzerhemden und ein neuartiger Bogen gehen auf sie zurück.

Für den kleinen Mann brachen mit der Hyksosherrschaft bessere Zeiten an: "Der Glanz des Mittleren Reiches basierte auf der extremen Ausbeutung der einfachen Bevölkerung", erzählt Manfred Bietak: "Die Pharaonen hielten ihre Untertanen knapp am Existenzminimum". So mußte zum Beispiel eine Familie auf 27 Quadratmetern hausen, in auf dem Reißbrett entworfenen Wohnsilos. Unter den "Herrschern der Fremdländer" konnten es sich nun auch die unteren Bevölkerungsschichten leisten, ihren Toten Grabbeigaben für den Aufenthalt im Jenseits mitzugeben.

Die Hyksos demütigten und beleidigten die ehemalige ägyptische Oberschicht nach allen Regeln der Kunst. Der Hyksos-König Apophis etwa beschwerte sich in einem wortreichen Schreiben beim machtlosen Pharao, daß er sich durch den Lärm der Nilpferde im thebanischen Palastgarten in seiner Ruhe gestört fühlte - Theben liegt 600 Kilometer von Avaris entfernt. "Umso unerträglicher war diese arrogante Haltung für die noch unlängst nicht minder überheblichen Ägypter", schmunzelte der amerikanische Ägyptologe John A,. Wilson.

Die schmachvolle Nilpferd-Anekdote entstammt einem ägyptischen Volksmärchen - eine der wenigen ägyptischen Quellen, in denen die Hyksos überhaupt erwähnt werden. Denn diese nationale Katastrophe wurde von den alten Ägyptern aus dem Bewußtsein verdrängt. Erst ein Jahrhundert nach Ende ihrer Herrschaft wurden die Hyksos erstmals in einem offiziellen Dokument der Königin Hatschepsut erwähnt; freilich wenig freundlich als "entwurzelte Strolche".

Einen Pharao in Theben zu belassen, war wohl ein Fehler, denn von dort begannen die unterjochten Ägypter ihren Befreiungskampf. Unter Ahmose wurde Avaris nach dreimaliger Belagerung im Jahre 1530 v. Chr. eingenommen. Die Hyksos-Herrschaft war zu Ende, die Zeit des Neuen Reiches brach an, eine Ära, die so große Pharaonen wie Thutmosis III., Echnaton (Amenophis IV.) und Ramses II. hervorbrachte, aber auch Tutanchamun, einen zwar unbedeutenden, aber durch die Entdeckung seines Grabes zu später Berühmtheit gelangten König.

Als Zeichen ihres Triumphes errichteten die Ägypter ein prächtiges Kastell in Avaris, in dem die österreichischen Archäologen über zwei Jahrtausende später einen sensationellen Fund machen sollten: Die Wände des Kastells waren mit minoischen Fresken bedeckt, mit Stierspringer-Szenen und typischen Labyrinth-Mustern - wie im Palast von Knossos, dem Zentrum der minoischen Hochkultur. Als Grund vermutet Manfred Bietak eine politische Heirat. Wahrscheinlich dienten sie einer minoische Prinzessin, die mit einem Mitglied des ägyptischen Königshauses verheiratet wurde, als tröstliche Erinnerung an ihre Heimat. Avaris selbst blieb trotz aller Zerstörungen ein blühendes Handelszentrum und wurde unter Ramses II. (1279 bis 1070 v. Chr.) abermals für kurze Zeit zur politischen Hauptstadt Ägyptens. (Der Königspalast aus dieser Zeit wurde noch nicht gefunden, dafür eine unterirdische Wasserleitung. "Die wird uns zum Palast führen", ist Bietak überzeugt.)

Die rasante Entwicklung von Avaris macht das antike Handelszentrum zu einem Fundort ersten Ranges. Eine Stadt wächst nämlich auch in die Höhe: Vergleichbar mit den Jahresringen eines Baumes legte sich in Avaris aufgrund der regen Bautätigkeit eine Schicht über die nächste. Diese Besiedlungsschichten sind ziemlich genau datierbar und entsprechen im Durchschnitt einer Dauer von 30 Jahren. Diese "kontinuierliche Stratigraphie", wie die Archäologen so etwas nennen, ist ein Glücksfall. Denn in jeder Schicht finden sich auch die Überreste importierter Waren, die einer bestimmten Epoche ihres Ursprungslandes entstammen. Die Geschichte der jeweiligen Handelspartner läßt sich daher mit jener Ägyptens in Verbindung bringen.

Das ist von höchstem Wert: Die Daten der ägyptischen Geschichte gelten als ziemlich gesichert. Die Ägyptologen liegen maximal zehn Jahre daneben, behaupten sie. Andere Kulturen des östlichen Mittelmeerraumes können weit weniger gut datiert werden, die regionalen Chronologien divergieren um 150 bis 200 Jahre. Auch die Naturwissenschaft konnte nicht zur Klärung der Datierungsprobleme beitragen: Der Ausbruch des Vulkans von Thera, der dieses Zentrum der minoischen Kultur zerstörte, wurde zum Beispiel aufgrund von Anomalien im Wachstum von Bäumen auf 1628 v. Chr datiert. Altertumswissenschaftler hingegen halten aus guten Gründen an ihrer traditionellen Datierung der verheerenden Katastrophe um 1500 v. Chr. fest.

Die in Avaris gefundene und zeitlich genau zuordenbare Importkeramik könnte solche Ungereimtheiten endgültig beseitigen. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat daher ein internationales Großforschungsprojekt ins Leben gerufen, das sich mit der Erstellung einer allgemeingültigen Chronologie des gesamten östlichen Mittelmeerraumes beschäftigt. Die bronzezeitliche Chronologien Syriens, Palästinas, Zyperns und der Ägäis könnten so neu geschrieben werden. Der Koordinator des Projekts: Manfred Bietak.

Im Falle des Vulkanausbruchs von Thera dürfte sich herausstellen, daß die Naturwissenschaftler falsch liegen. Denn unter den Trümmern der bei den Eruptionen verschütteten minoischen Siedlungen wurde eine bestimmte Art zyprischer Keramik gefunden, die in Avaris erst nach der Hyksos-Zeit, also nach 1530 v. Chr. auftrat. Wäre der Vulkan 1628 v. Chr. ausgebrochen, so wäre besagte zyprische Keramik schon unter den "Herrschern der Fremdländer" auf den Märkten von Avaris feilgeboten worden. Ist sie aber nicht, obwohl die Hyksos fleißig Geschirr aus Zypern einführten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung