Traumhaft beglückende Ferne

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"Emil Nolde und die Südsee" im Bank Austria Kunstforum in Wien.

Befreiung von den überkommenen Traditionen und radikale Erneuerung: mit diesem Programm revolutionierten die Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts die Welt der bildenden Künste. Als einer der wenigen Bezugs- und Orientierungspunkte galt ihnen die so genannte primitive Kunst: Volkskunst, Kinderzeichnungen, die Kunst Geisteskranker - und die "Kunstäußerungen der Naturvölker", wie der große expressionistische Maler Emil Nolde (1867 bis 1956) formulierte, dem derzeit im Wiener Kunstforum eine sehenswerte Ausstellung gewidmet ist: "Emil Nolde und die Südsee".

Wie viele Künstler seiner Generation war Nolde fasziniert von der Kunst der Naturvölker: "Die absolute Ursprünglichkeit, der intensive, oft groteske Ausdruck von Kraft und Leben in allereinfachster Form - das möge es sein, was uns die Freude an diesen eingeborenen Arbeiten gibt", schwärmte der Maler. Die romantische Vorstellung einer ursprünglichen, unverbildeten Lebensweise im Einklang mit Natur und Umwelt war Ausdruck einer zu jener Zeit weit verbreiteten Sehnsucht nach dem Authentischen. Andere strebten danach, am einfachen, als paradiesisch imaginierten Leben der Naturvölker weitab der europäischen Zivilisation teilzuhaben, etwa Paul Gauguin. Nolde jedoch wollte "einige ganz von jeder Zivilisation unberührte Erstheiten der Natur und Menschen" kennenlernen, etwas vom Wesen der "Urnatur" der "Urmenschen" aufspüren und diese versinkende Welt auf Papier und Leinwand festhalten. Als einer der wenigen Künstler war es Nolde vergönnt, diese Wünsche auch in die Realität umzusetzen.

Seinen ersten Kontakt mit dem "primitivem" künstlerischen Ausdrucksvokabular erlebt Nolde während der Wintermonate 1911/12 im bis zur Unbegehbarkeit mit Exponaten vollgestopften Berliner Völkerkundemuseum. Dort entstanden eine Reihe von Zeichnungen, aus deren Motiven er im Atelier Stillleben komponierte. Das interessanteste davon ist leider nicht im Kunstforum zu sehen, sehr wohl aber zwei der Vorzeichnungen: "Der Missionar" (1912), auf dem ein falsch grinsender koreanischer Wegegott (siehe Bild) mit einer Schriftrolle in den Händen, eine afrikanische Tanzmaske und eine afrikanische Mutter mit Kind am Rücken zu einem Statement gegen Kulturvernichtung und Kolonialismus geraten.

Im Oktober 1913 bekommt Nolde die Möglichkeit, zusammen mit seiner Frau Ada an einer medizinisch-demographischen Expedition in die Südsee teilzunehmen. Das deutsche Kaiserreich war Kolonialmacht im Pazifik, die "deutsche Südsee" bestand aus den Inselgruppen Samoa, Nauru, den Marianen, Karolinen, den Marschall-Inseln, dem Bismarck-Archipel und einem Teil Neuguineas. Prestigedenken, aber auch die zeitgenössische Südseeschwärmerei hatten 1884 zur Übernahme der Überseegebiete geführt; denn im Gegensatz zu den Schwarzafrikanern wurden die Südseeinsulaner in Deutschland zu "edlen Wilden" verklärt.

Die Südsee-Reise erwies sich für Nolde in künstlerischer Hinsicht als Offenbarung, trotz einer Überraschung: die Farben der Tropen erschienen ihm nämlich "gar nicht so vollfarbig, wie allgemein angenommen". Auf einer Unmenge an rasant ausgeführten Aquarellen dokumentierte er seinen Blick auf die fremden Menschen: Köpfe von Eingeborenen, oft mit den Merkmalen ihrer Stammesherkunft, Gesichter, oft voll Misstrauen oder Angst, aber auch vertrauensvoll und freundlich. Auf über 400 kleinformatigen Zeichnungen hielt er seine Eindrücke der exotischen Landschaften fest: das Meer, Wolkenformationen, Sonnenaufgänge, die Silhouetten von Palmen, Booten oder Vulkanen - die zum Teil fast ungegenständlich wirken. 19 Ölbilder malte Nolde in der Südsee, Bilder seiner von ihm zum Ideal verklärten "Urmenschen", deren Fremdheit er spannungsreich in Malerei übertrug: "erdige Farben für erdverbundene Menschen, deren Würde Nolde gerade dadurch wahrt, indem er sie nicht mit greller Farbigkeit übersteigert", so Christiane Lange im Katalog.

Während Noldes Rückfahrt brach der Erste Weltkrieg aus. Das Schiff, auf dem das Gepäck transportiert wurde, wurde von der englischen Marine aufgebracht. Der infolge der Reisekosten hoch verschuldete Maler betrachtete seine Werke schon als verloren, da tauchten sie zu seiner größten Freude 1921 in Plymouth auf, ebenso sein übriges Gepäck mit 250 seiner Skizzen.

Diese Reise hat den küstlerischen, geistigen und menschlichen Horizont Noldes nachhaltig geprägt, sie begleitete ihn, wie er in seiner Autobiografie schrieb, "wie eine traumhaft beglückende Ferne" sein Leben lang. In den Jahren danach verarbeitete er seine Eindrücke der fremden Menschen und Landschaften in zahlreichen Gemälden, auch noch später klingen die Südsee-Motive immer wieder in seiner Bildwelt an. Nicht mit dem bloßen Abbild, sondern mittels der Kunst war er sicher, das Wesentliche des menschlichen "Urzustandes" festzuhalten. Ingried Brugger, Leiterin des Kunstforums: "Primitivismus auf höchster Stufe".

Bis 3. März

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