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In Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" wird die Fiktion von der Historie k.o. geschlagen.

Das Buch hat Gewicht - über 1 kg bringt es auf die Waage, über 900 Seiten umfasst es, das flößt Respekt ein. Sein Held dagegen ist ein Superfedergewicht, er steigt mit 58,5 kg in die Handlung ein. Nasrettin Öztürk ist sein Name, und er tritt im Boxring zu Beausoleil an, den Europameister herauszufordern. Dass sein Erzähler viel vorhat mit ihm und mit seinem Roman, daran lässt er von Beginn an keinen Zweifel: um das "Gute zu zeigen und zu verkörpern" hat er den Helden erschaffen, schickt ihn in den "Kampf zwischen Gut und Böse" und "allein mit Hilfe der Fäuste und nach festen und formulierten Gesetzen, deren Einhaltung so streng überwacht wird wie die derjenigen von Moses oder Mohammed, muß sich erweisen, welches der beiden das Stärkere ist."

Der Kampf zwischen Nasrettin, einem gebürtigen Türken, der für Deutschland antritt, und Marcel Sandol, dem französischen Titelverteidiger, wird sich über die volle Länge von 12 Runden erstrecken. Die Gegenwart des Kampfes ist dem Erzähler kostbar, und er friert sie Runde für Runde in ein Standbild ein, kämpft gegen das Vergehen der Zeit, indem er der Vergangenheit breitesten Raum gibt.

Vergangenheit prägt

Da ist zum einen die Vergangenheit des Helden, dessen Eltern aus dem kleinen Dorf Sulakbahçe, nahe der Grenze zu Armenien, stammen. Eine Familienfehde zwingt die Eltern zur Flucht in die Stadt Kars, wo Nasrettins Vater Oktay beruflich nicht Fuß zu fassen vermag, der daher in den sechziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland geht. Die Familie folgt ihm 10 Jahre später nach Berlin. Nasrettin schlägt sich im wahrsten Sinne des Wortes durch die Krisen seines jungen Lebens, die Leidenschaft für den Boxsport ist die identitätssichernde Konstante seines Lebens.

Zum anderen versucht Thorsten Becker in seinem Roman nichts Geringeres als eine Gesamtdarstellung der türkischen Geschichte, beginnend bei Stammvater Oguz und endend mit Mustafa Kemal Atatürk.

Becker ist ein ehrgeiziger Autor, der schon in seinem zuletzt erschienenen, in Indien spielenden Roman "Die Besänftigung" den polyglotten Poeta doctus gibt. Gier nach Wissen und Welt, postmodernes Kokettieren mit einer auktorial-göttlichen Erzählerposition, ein antiquiert verschnörkelter Stil gehören zu den Charakteristika von Beckers Prosa.

Dass die Lektüre des "Siegers nach Punkten" insgesamt mehr Arbeit als Vergnügen bereitet, liegt vor allem daran, dass Becker damit zwei Bücher geschrieben hat, von denen nur eines ein Roman ist, das andere eine Art szenisch aufbereiteter Einführung in die Geschichte der Türkei. Und während die Historie sich für den Leser mehr und mehr in ein Schwergewicht verwandelt, gerät die Fiktion zu einer leichtgewichtigen Zwischenmahlzeit. Becker macht zudem die Aussöhnung mit der Tatsache, es nur zur Hälfte mit einem Roman zu tun zu haben, nicht leicht. Sein historisches Wissen scheint wenig abgelegen, er verliert sich über die Zeit zwischen 500 und 1300 immer wieder in Details, die er in keinen Zusammenhang zu bringen versteht.

Erstaunlich aktuell

Mit dem Aufstieg der Dynastie der Osmanen gewinnt seine Schilderung an Farbe. Was vor dem Hintergrund der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei an Beckers historischem Abriss zu fesseln vermag, das ist die Darstellung des Wechsels von gemeinsamen und gegenläufigen Interessen der christlichen Mächte und des Osmanischen Reichs, die Konnexion von türkischer und europäischer Geschichte. Vor allem das 19. Jahrhundert wirkt immer wieder verblüffend aktuell: So präsentiert zum Beispiel der osmanische Außenminister auf der Friedenskonferenz von 1856 in Paris einige Reformvorhaben, diese "Geste vorauseilenden Gehorsams traf genau den Geschmack der versammelten Mächte. Sie nahmen das Osmanische Reich als vollwertiges Mitglied in das europäische Orchester auf."

Doch trotz Zugewinn von Wissen bleibt man am Ende des Romans verstimmt zurück. Nasrettin, der Held sein sollte, konnte keinen tieferen Eindruck hinterlassen, k.o. geschlagen wie auch die anderen Romanfiguren durch die Wucht der Historie. Das konnte nicht im Sinn des Erfinders sein.

Sieger nach Punkten

Roman von Thorsten Becker

Rowohlt Verlag, Reinbek b.H. 2004

927 Seiten, geb., e 30,80

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