Big Brother is here

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George Orwells 1984 wird - in Bezug auf die Gefahren von Internet & Co - immer wieder bemüht. Neueste "presence awareness"-Techniken zeigen: 1984 ist Wirklichkeit.

Eigentlich sollte in Sachen Elektronik nichts mehr überraschen: Man hebt etwa seinen Telefonhörer ab und erkennt sofort, ob der, den man anrufen will, gerade spricht. Man sieht das, ohne nur eine einzige Ziffer der entsprechenden Telefonnummer gewählt zu haben. Oder: Wenn Sportgeräte in einem Gymnastikclub entsprechend Internet-programmiert sind, lässt sich von zu Hause aus oder auf dem Wege dorthin mittels Handy - wieder ohne zu wählen! - erkennen, ob das Laufband oder das Fahrrad besetzt ist, und wie lange es gebucht wurde.

Diese neuen Technologien, presence awareness genannt, werden bereits ab Mitte diesen Jahres in neue Handys von Motorola integriert, und Nokia wie auch Ericsson sind dabei, sich spätestens 2003dieser Novität zu bedienen. Diese presence awareness, diese elektronische Bestätigung einer Präsenz, kann auch für Airlines sowie Flugpassagiere und deren Angehörige von enormer Bedeutung werden.

Ein Beispiel dazu schildert Sonu Aggarwal von der Software-Firma Cordant in der New York Times: "In die Rücklehne jedes Sitzes kann ein Minicomputer eingebaut werden, in den Reihen der Ersten Klasse, wo sich an dieser Stelle vielfach ein TV-Bildschirm befindet, kann die entsprechende Technologie darin integriert werden. Ein Passagier braucht dann lediglich eine Art Kreditkarte mit einem ,Präsenz-Softwarechip' bei sich zu haben. Selbst wenn er diese Karte nicht zückt, sondern sie beispielsweise in einer Jackentasche lässt, aktiviert sie den Minicomputer. Auf diese Weise können alle E-Mails für den Passagier auf den Bildschirm in der Rückenlehne umgeleitet werden. Die Software eröffnet zudem die Möglichkeit, dass bestimmte, zuvor eingegebene Personen oder Büros in dem Augenblick unterrichtet werden, wenn sich der Passagier gesetzt und angeschnallt hat.

Wenn die Technologie der presence awareness beispielsweise in Handhelds, Handys oder in Autos mit dem Satelliten-Ortungssystem GPS kombiniert wird, kann faktisch jedermann für jedermann jederzeit sichtbar werden.

Erneut erhebt sich die Frage nach "Big Brother", nach der Verletzung der Persönlichkeitsrechte, nach dem Datenschutz. "Das hat wie alles auf diesem Gebiet", urteilt Kommunikationsprofessor Katelyn McKenna (New York University), "seine Für und Wider", und sie erläutert: "Freunde und Verwandte dürften es vielfach begrüßen, wenn sie über den Verbleib einer bestimmten Person, deren Aufenthaltsort und Erreichbarkeit, jederzeit Bescheid Wissen. Missbrauch jedoch kann nicht ausgeschlossen werden. À la ,Big Brother' kann ein Arbeitgeber schnüffeln und seine Angestellten überwachen. Oder: Eine junge Dame kann erkennen, ob ihr Verlobter, der das Telefon nicht beantwortet, gerade am Computer dort tätig ist, wo sie ihn angerufen hat und so weiter ..." Von einem "sozialen Dilemma" in solchen Fällen spricht Jonathan Rosenberg, der Chefwissenschaftler des Software-Unternehmens Dynamicsoft (New Jersey). Er gehört zur "Internet Engineering Task Force", die sich mit ethischen Fragen der Cyberspace-Kommunikation auseinandersetzt.

Die presence awareness ist im Grunde genommen nichts anderes als die Weiterentwicklung jener Software, die als instant messaging bekannt ist. Die meisten Internet-Nutzer sind damit vertraut, nicht alle jedoch nutzen die entsprechenden Systeme:

* Bei AOL etwa gibt es die Buddy List. Wer hier unter den Rubriken Buddies, Familie oder Mitarbeiter Namen und AOL-Email eingibt, wird sofort nach Einschalten seines Computers darüber informiert, ob ein Registrierter gerade am Keyboard arbeitet. Er kann ihn dann sofort anschreiben. Michele Magazine aus Manhattan hat diesen Service wieder abbestellt: "Man kann sich ja sonst gar nicht mehr verstecken, ich habe es nicht gern, wenn Leute wissen, dass ich zu Hause bin."

* Wer gewisse Versionen des MSN Messenger benutzt, sitzt noch mehr auf dem Präsentierteller. Denn wenn jemand sein Keyboard für einige Minuten nicht benutzt hat, erscheint hinter seinem Namen eine Uhr und zeigt an, wie lange der Computer verwaist war. Beim ersten Berühren des Keyboard verschwindet die verräterische Uhr wieder. Ein MSN-Abonnent dazu: "Manchmal muss ich in einem Buch nachschauen. Aber so bald ich das Keyboard wieder berühre, klingelt das Telefon - das heißt: da hat einer genau aufgepasst, wann ich wieder am Computer sitze." Also: Ohne dass man sich dessen bewusst ist, ohne dass man es weiß oder merkt, kann man beobachtet werden.

Über 50 Millionen Amerikaner nutzen diese Instant-Messaging-Systeme derzeit. Das deutet möglicherweise an, wie viele Menschen sich der künftigen presence awareness bedienen werden. Wie schon heute bei - nicht allen! - Messaging-Angeboten muss eine Genehmigung eingeholt werden, soll jemand auf die künftige Kontakt-Liste gesetzt werden. Aber das ist, so beweist die Gegenwart, längst zur Formsache entartet - Freund und Feind sind lange schon so geschult und gewitzt, dass sie derartige Hindernisse umgehen können.

Motorola soll in sechs Monaten den ersten Riesenschritt hin zur Präsenz-Technologie tun - mit jenem geheimnisumwitterten Handy, das erkennt, ob ein anderes Handy eingeschaltet ist oder gerade benutzt wird.

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