"Das Bedürfnis nach Rache sinkt“

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Youk Chhang ist Chef des Zentrums, das die Grauen der Roten Khmer in Kambodscha dokumentiert. Ein Gespräch über Schuld und Sühne.

Am 28. Juli wählen die Kambodschaner ein neues Parlament. Ein FURCHE-Gespräch mit Youk Chhang. Chhang überlebte die Killing Fields der Roten Khmer. Heute ist er Direktor des Dokumentationscenters von Kambodscha. Seit 1995 kämpft er für das Recht auf Erinnerung. Zahlreiche Verbrecher des Pol Pot-Terrorregimes brachte er vor Gericht.

Die Furche: Wie lebendig ist die Erinnerung an die Roten Khmer im Alltag der Menschen von Kambodscha?

Youk Chhang: Unsere Vergangenheit wird von allen wahlwerbenden Gruppen unangemessen politisiert. Sie ist ein kontinuierlicher nationaler Prozess, denn eine Gesellschaft kann sich nicht begreifen, ohne genauestens über ihre eigene Geschichte Bescheid zu wissen. Damit meine ich nicht, die Überlebenden des Genozids mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu quälen oder die gegenwärtige politische Ordnung daraus zu legitimieren. Staaten werden errettet, weil Menschen Opfer bringen, weil es Hoffnung gibt und Widerstandsfähigkeit. Es ist gefährlich, all diese Eigenschaften vieler Akteure mit einer Partei oder einer Regierung zu identifizieren. Führer führen nicht ewig, und alle politischen Parteien tragen die Samen des ideologischen Solipsismus’ in sich.

Die Furche: Kann die historische Wahrheitssuche entpolitisiert stattfinden?

Chhang: Sie darf zumindest nicht politisieren. Die Opfer verdienen es, auch einmal abschließen zu können. Deshalb unterstütze ich das Khmer Rouge Tribunal, das ECCC (Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, Anm. d. Red.), das vielleicht wichtigste Instrument dieser Möglichkeit, mit der Vergangenheit abzuschließen, weil dort den Tätern der Prozess gemacht wird.

Die Furche: Die Verfolgung der Schuldigen ist zweifellos wichtig. Wie helfen Sie Menschen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten?

Chhang: Das gemeinsam Durchlebte ist oft der Ausgangspunkt, denn über allen Postkonflikt-Gesellschaften breitet sich der Schatten des Traumas. Man läuft Gefahr, alles nur mehr schwarz-weiß zu sehen. Eine Schlüsselaufgabe unserer Arbeit besteht in Dialog, Bildung und Vorwärtsdenken.

Die Furche: Sitzen in Kambodscha auch heute noch die Roten Khmer an politischen oder wirtschaftlichen Machtpositionen?

Chhang: Wir haben Ex-Khmer Rouge in allen Schichten der Gesellschaft. In der Regierung, in NGOs, in religiösen Institutionen und in Allerwelts-Berufen. Werden Beweise für die Teilnahme an Gräueltaten gefunden, erhebt das Tribunal Anklage gegen die betreffenden Personen.

Die Furche: Die politische Verantwortung wird von Schuldigen mitunter ausgeblendet. Das US Magazin "Time“ sprach einst von "der Kunst des Vergessens“.

Chhang: In diesem Prozess gewollter Ausblendung kann ich keine Kunst erkennen, eher ein Krankheitssymptom, das behandelt werden muss, um einen dynamischen Heilungsprozess einzuleiten. Erinnerung hat auch mit Erziehung und Bildung zu tun, Recht mit Recherche.

Die Furche: Sie sind Mitherausgeber von "Kambodschas versteckte Narben“. Sollen Opfer ihre Narben zeigen?

Chhang: In unserer Opferbetreuung ermutigen wir Menschen nicht, sich über schmerzhafte Erlebnisse zu äußern, aber wir schaffen die Möglichkeit dafür. Es muss den Betroffenen überlassen bleiben, wann und wem sie ihre Narben zeigen. Manche kommen nur, um einfach da zu sitzen, nachzudenken und still zuzuhören. Manche wohnen scheinbar teilnahmslos als Zuseher den Prozessen des Tribunals bei, selbst wenn sie dort Menschen wiedersehen, die ihren geliebten Angehörigen unermessliches Leid zugefügt haben.

Die Furche: Welche Erfahrungen haben Sie im Umgang mit Versöhnung und Vergebung?

Chhang: Kambodschaner haben einen anderen Zugang zu diesen Vorgängen. Subtile Akte der Freundlichkeit, Großzügigkeit und des Respekts sind gewöhnlich Wege, die Täter wählen, um ihr Bedürfnis nach Vergebung durch die Opfer zum Ausdruck zu bringen. Ich kenne einen ehemaligen Khmer Rouge Kader, der einem seiner Opfer regelmäßig frisches Wasser nach Hause bringt. Für einen Fremden mag diese zarte Geste kaum der Rede wert sein, aber zwischen Opfer und Täter hat sie hohen Symbolcharakter als sinnstiftender Akt der Bitte um Verzeihung. Freilich gab es zwischen 1979 und 1984 auch ein weites Spektrum verübter Racheakte gegen Angehörige der Roten Khmer. In weiten Teilen der Bevölkerung sind Animositäten auch heute noch an der Tagesordnung: Opfer und Täter leben in Dörfern Tür an Tür. Man kennt den Nachbarn, der die Verwandten misshandelt oder getötet hat. Aber über wie viele Generationen hindurch kann man hassen? Wenn man die Kinder und Enkel der Täter mit seinen eigenen Kindern spielen sieht, wird das Bedürfnis nach Rache schwächer.

Die Furche: Sie haben so viel Leid erlebt. Wie gehen Sie persönlich mit Rache um?

Chhang: Im Buch "A Thief of History“ (2007) beschreibe ich meine Begegnung mit einem Einbrecher, den ich in meinem Apartment stelle. Als er über die Terrasse fliehen will, fasse ich seine kleine knochige Hand. Plötzlich erkenne ich in der Dunkelheit: Er ist keine 14 Jahre alt und es überfällt mich die Erinnerung an meine Jugend im Pol Pot Regime, als ich mich mit meiner Mutter im Wald versteckt habe und vor Hunger gezwungen war Essen zu stehlen. Ich lernte Schlangen und Ratten zu töten und zu essen. Ich lernte, wie man im Dschungel überlebt. Da halte ich noch immer seine Hand und sehe mich selbst in seinem hungrigen Gesicht. Ich lasse ihn laufen.

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