Fiesta auf dem Friedhof

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Die "Tage der Toten", wie in Mexiko die ersten Novembertage genannt werden, sind ein fröhliches Fest, das sich aus alten indianischen und christlichen Traditionen entwickelt hat.

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Die "Tage der Toten", wie in Mexiko die ersten Novembertage genannt werden, sind ein fröhliches Fest, das sich aus alten indianischen und christlichen Traditionen entwickelt hat.

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"Der Kult des Todes ist, wenn er tiefgründig und vollkommen ist, auch ein Kult des Lebens. Beide sind untrennbar. Eine Kultur, die den Tod verleugnet, verleugnet auch das Leben."

aus: Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit Totenköpfe aus Marzipan, Särge und Skelette aus Schokolade, Musik und ausgelassene Fiestas auf den Friedhöfen. Makaber!? Unmöglich!?

Ungewöhnlich vielleicht - für Mitteleuropäer, die gewohnt sind, Allerheiligen auf ihre Art zu feiern.

Los Dias de los Muertos, wie Allerheiligen/Allerseelen auf Spanisch heißt, spiegelt die Geschichte Mexikos ebenso wider wie das daraus resultierende ambivalente Verhältnis der Mexikaner zum Tod und trägt viel zum besseren Verständnis dieses Landes und seiner Bewohner bei.

Allerheiligen in Mexiko vereint nämlich die aztekische Vorstellung von Leben und Tod als sich abwechselnde Stadien eines gesamt-kosmischen Kreislaufes ebenso wie die Vorstellungen der Maya vom Leben nach dem Tod und Elemente der christlich-spanischen Volksfrömmigkeit.

Grundvoraussetzung für die im ganzen Land stattfindenden Feierlichkeiten rund um die ersten beiden Novembertage ist die Vorstellung, dass die Seelen der Toten einmal jährlich zurückkommen, um mit ihren Hinterbliebenen hier auf der Erde zwei fröhliche gemeinsame Tage zu verbringen.

Totenschädel überall Die Vorbereitungen beginnen schon Monate vor dem eigentlichen Fest; Gräber, Straßen und Häuser werden geputzt. Eigene Geschäftszweige haben sich auf dieses Fest spezialisiert - und leben nicht schlecht davon: große Felder werden mit Cempasuchil, den intensiv duftenden gelben Totenblumen bebaut, Bäcker backen das Pan de muertos, das Totenbrot, die Süßwarenindustrie produziert Totenköpfe, Särge und Skelette aus Marzipan, Schokolade und Zuckerguss. Andere Geschäftszweige haben sich auf dem Anlass entsprechende Scherenschnitte und Illustrationen spezialisiert. Künstler wie Jose Guadalupe Posada wurden mit ihren Skelett-Karikaturen weltberühmt. Einige Märkte blühen förmlich auf und überbieten sich in Handwerksprodukten für das Totenfest. Diese Feiertage kurbeln den Handel beträchtlich an und sind ein für die lokale Wirtschaft wichtiger Faktor. Alle stürzen sich zu Allerheiligen in große Unkosten, und viele Haushalte verschulden sich regelrecht durch das Ausrichten des Festes.

Eines der auffälligsten Merkmale dieses Festes sind die allgegenwärtigen Totenschädel. Sie sind weit mehr als Dekoration. Auf die Schädel aus Zuckerguss lässt man seinen eigenen Namen schreiben, verschenkt sie an seine Lieben. Dann soll die Freundschaft oder Liebe über den Tod hinaus halten. Man kann sich aber auch einen Verstorbenen "einverleiben", indem man einen Schädel aus Zuckerguss mit seinem Namen isst. Die Augenhöhlen sind oft mit buntem Metallpapier ausgelegt, Zuckertränen laufen über die hohlen Backenknochen. "Wie du aussiehst, sah ich einst aus. Wie du mich jetzt siehst, wirst du einst aussehen", ist da etwa als Memento mori zu lesen.

So genannte Ofrendas sind weitere Charakteristika dieses Festes. Ofrenda wird meist mit "Altar" oder "Opfer" übersetzt und ist eine Art Gabentisch, auf dem jede Seele eines Toten bei ihrem Besuch das wiederfindet, was sie schon hier auf Erden erfreut hat. Die Ofrendas können sehr unterschiedlich sein, einige Merkmale sind jedoch allen gemeinsam: so u.a. die Symbole für die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Das Feuer wird durch die Kerzen, das Wasser durch sich selbst, die Erde durch Blumen und die Luft durch Copal symbolisiert. Copal ist ein Weihrauch-Harz, das schon von den Azteken benutzt wurde. Der Geruch ist Symbol für die Befreiung der Seele vom Körper beim Tod.

Auf den Ofrendas sind immer auch Kerzen und Fotos der Verstorbenen sowie Heiligenbilder zu finden. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Speisen: oft gibt es Mole, eine Chili-Sauce mit Schokolade, die mit Geflügel gegessen wird und Totenbrot, Totenschädel aus Zuckerguss und darüberhinaus oft die Leibspeise des Verstorbenen. Bei den Getränken reicht die Palette - je nach dem persönlichen Geschmack des Toten - von Kakao und Coca Cola bis zu Bier und Pulque.

Für die Toten ist das Beste gerade gut genug. Alles muss neu und frisch sein: vom Geschirr bis zu den Speisen. Daher sind die Ofrendas für die Familien so kostspielig. Schauriges wird über jene erzählt, die ihre Toten nicht gebührend gewürdigt haben. Die Ofrenda gilt als Zeichen, die Freuden und Erträge des vergangenen Jahres zu teilen. Sie ist auch Ausdruck der Dankbarkeit, Liebe und Verehrung - das gilt für die eigenen Vorfahren ebenso wie für die mexikanischen Nationalhelden und andere Integrationsfiguren der Vereinigten Staaten von Mexiko.

Daher sind Ofrendas zu Allerheiligen nicht nur in jedem Haus, sondern auch im öffentlichen Raum zu finden: in Schulen und Spitälern, in Restaurants und Kindergärten, in Parks und öffentlichen Verwaltungsgebäuden. Sie sind mexikanischen Nationalhelden (Hidalgo ...) ebenso gewidmet wie legendären Künstlern (Diego Rivera, Frida Kahlo ...) und über ihren Tod hinaus bekannten Lokalpolitikern und Ärzten. Diese "öffentlichen Ofrendas" sind meist prächtiger und aufwendiger gestaltet als die "privaten" und Meisterstücke des Kunsthandwerks. In den "politischen Ofrendas" bietet sich die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Die Toten werden einbezogen und eingeweiht in die Sorgen der Lebenden. So sind diese Ofrendas gleichzeitig Zeichen der Freude über das alljährliche Wiedersehen sowie Zeichen der Solidarisierung und Anklage.

Die Seelen der Kinder Los Dias de los Muertos werden in Mexiko zwar regionell unterschiedlich gefeiert, folgen jedoch prinzipiell einem Muster: Als erstes - am 30. Oktober - erwarten die Hinterbliebenen die Seelen der Ninos limbo, der vor der Taufe verstorbenen Kinder. Am darauffolgenden Tag kündigen die Glocken die Ankunft aller anderen Angelitos, aller anderen verstorbenen Kinder, an. Ofrendas werden eigens für sie aufgebaut, und die Seelen der Kinder freuen sich neben den traditionellen Süßigkeiten auch über Spielsachen auf den geschmückten Tischen.

Am 1. November erwarten die Mexikaner den Besuch der Seelen der erwachsenen Verstorbenen. Jede Seele kommt zurück in ihr Haus. Der Weg wird mit Cempasuchil markiert. Die leuchtend gelbe Farbe und der starke Duft der Totenblumen sollen den Seelen helfen, den richtigen Weg zu finden.

Der 1. November wird in den ländlichen Gegenden Mexikos meist im Kreis der Familie und in den Häusern verbracht. Gemeinsam mit den verstorbenen Angehörigen isst und trinkt man rund um die häuslichen Ofrendas; die Lebenden erzählen den Toten, was sich im vergangenen Jahr ereignet hat.

Und jedes Jahr wieder heißt es erneut Abschied nehmen: Am 2. November werden die Toten zu den Gräbern am Friedhof begleitet. Die Stimmung kann sehr unterschiedlich sein: Einige Familien haben Mariachis engagiert, die am Grab musizieren und trinken mit den Seelen der Verstorbenen noch gemeinsam einen Schluck Alkohol.

Meist aber herrscht auf dem Friedhof nicht mehr die fröhliche Stimmung der Zeit davor in den Häusern; auf dem Friedhof herrscht Trauer. Besonders an den frischen Gräbern von erst kürzlich Verstorbenen stehen die Menschen und weinen. Der Abschied fällt schwer. Das Totenfest ist kein ausschließlich frohes und fröhliches Fest, auf das es oft reduziert wird. Für die Nicht-Einheimischen ändert sich die Stimmung jedoch nicht: auf den Straßen geht die Fiesta weiter.

Ein Fest der Familie Der 3. November schließlich ist dem Austausch der Ofrendas und dem Besuch bei Verwandten gewidmet. Während dieser traditionellen Feiern gewinnen die familiären Beziehungen an Bedeutung. Aber auch sozioökonomische Beziehungen werden vertieft.

Prinzipiell ist das Totenfest in Mexiko kein trauriges Gedenken. Es ist ein Fest; ein Fest der Familie und der Gemeinschaft. Alle Riten und Feierlichkeiten haben den einen Grund, die verstorbenen Angehörigen willkommen zu heißen, weltliche Dinge, Essen und Trinken, Freuden und Sorgen mit ihnen zu teilen. Es geht darum, sich an sie zu erinnern und ihnen in der Zeit, in der sie bei ihren Familien sein dürfen, mit dem eine Freude zu machen, was sie schon zu Lebzeiten genossen haben.

In den urbanen Gegenden Mexikos ist vieles verwässert und zur Touristenattraktion geworden, in vielen ländlichen Gegenden haben sich die alten Traditionen unverfälscht erhalten. Durch die Chicanos, die mexikanischen Gastarbeiter in den USA, sind in den vergangenen Jahren auch Elemente des Halloween in die Feiern rund um die Dias de los Muertos eingeflossen. Umgekehrt gibt das Aufrechterhalten der Traditionen rund um das Fest Allerheiligen den Chicanos in den USA die Möglichkeit, ihre kulturellen Identität zu betonen und ihren Zusammenhalt als Gruppe zu vertiefen.

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