Jahresringe statt Jubiläen

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8.000 Zeugen Jehovas werden allein bei ihrem Wiener Bezirkskongress erwartet, der am 6. Juli beginnt. In den kommenden Wochen treffen die "Zeugen", die bis vor 70 Jahren "Ernste Bibelforscher" hießen, auch in Wels, Graz Villach und Innsbruck zusammen.

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8.000 Zeugen Jehovas werden allein bei ihrem Wiener Bezirkskongress erwartet, der am 6. Juli beginnt. In den kommenden Wochen treffen die "Zeugen", die bis vor 70 Jahren "Ernste Bibelforscher" hießen, auch in Wels, Graz Villach und Innsbruck zusammen.

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Vor 70 Jahren haben sich die "Ernsten Bibelforscher" in "Zeugen Jehovas" umbenannt. Wenn sich die Zeugen in diesen Tagen zu ihren dreitägigen Bezirkskongressen treffen, werden sie sich an diesen Jahrestag erinnern?

Zeugen Jehovas sind für ihre abweisende Einstellung zu Gedenkfeiern bekannt, doch auch sie kennen Jubeljahre: An den drei Jahreszahlen 1914, 1919 und 1935 machen sie heute die Erfüllung ihrer Endzeit- und Paradieslehre fest. Mit den aufsteigenden Jahren verbinden die Zeugen Jehovas eine Steigerung des Bruchs zwischen der gegenwärtig bösen Welt und dem unsichtbar gegenwärtigen Königreich Jehovas.

1914 - Jesus Weltherrscher Das Vermächtnis von Charles Taze Russel (1852-1916), dem Gründer der Ernsten Bibelforscher, an die heutige Wachtturm-Gesellschaft (WTG) ist das Interesse an der Chronologie der Bibel in Bezug auf das Kommen Christi und das Ende der Welt. Dies wird heute mit einigen Korrekturen weitergeführt. Russel errechnete 1874 als Datum für den Weltherrschaftsantritt Jesu im Himmel und 1914 galt als Endtermin für die Sammlung gläubiger Bibelforscher und der Drangsal. Diese Treuen sollten anschließend in den Himmel entrückt werden, während auf der Welt "Harmagedon", der Krieg Gottes, alle Ungläubigen vernichtet - anschließend beginne das Tausendjährige Reich.

Um diese spektakuläre Idee nach dem Tod Russels nicht ganz aufgeben zu müssen, fand eine Umdeutung statt. 1914 blieb, denn es markiert ein weltgeschichtliches Ereignis: den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Weltherrschaft des himmlischen Jesu wurde um 40 Jahre verschoben, die Sammlung der treuen Anbeter Jehovas von diesem Jahr entkoppelt. Die lange Zeit geltende Auffassung, dass einige Zeugen Jehovas des Jahrgangs 1914 (die "1914-Generation") die Wiederkunft Christi erleben werde, wurde aufgegeben. Heute wird die Evangelienstelle Matthäus 24,34f im entgegengesetzten Sinn ausgelegt: Mit der angesprochenen Generation seien nicht die Zeugen Jehovas gemeint, sondern die "bösen Menschen", die in "Harmagedon" (dem Ende der jetzigen Drangsalzeit) untergehen werden, und von denen sie sich getrennt halten sollten (Wachtturm 1. November 1995).

Bis heute leiten Zeugen Jehovas aus der Verbindung politischer Fakten und ihrem Endzeitverständnis eine besondere Aktualität ihrer Bibelauslegung ab. Die unnachgiebige Ausschau, eine neue Heilsperiode aus der Bibel abzuleiten und sich selbst als deren Vollstrecker zu rühmen, ist zur Eigenart der WTG-Ideologie geworden.

1919 -Auszug aus Babylon Der "erweckte" Bibelforscher Russel ging von der unmittelbaren Führung Gottes aus, die ihn die Wahrheit in der ganzen Heiligen Schrift erkennen ließ. Dies entdeckte er dank der Adventisten und anderer Denominationen. Er wechselte aber zu keiner Glaubensgemeinschaft über, denn er war der Meinung, diese verkündigten nicht direkt die Wahrheit, sondern wiesen bloß auf Irrtümer hin, die am besten gemieden werden sollten.

Die heutigen Zeugen Jehovas beurteilen die ersten Bibelforschergruppen überraschenderweise ähnlich: "Sie hatten zwar viele religiöse Irrlehren verworfen, doch ihnen hafteten immer noch gewisse babylonische Vorstellungen und Bräuche an" (Die Prophezeiung Jesajas, Bd. I, WTG/Selters 2000, 66). Beginnend mit dem Jahr 1919 seien diese babylonischen - das heißt: falschen - religiösen Vorstellungen abgelegt worden. Als Beispiel seien die Weihnachtsfeier, Geburtstagsfeste und das Tragen von Kreuzzeichen genannt. Zu besonderen Markenzeichen sind aber die Verweigerung von Bluttransfusionen und der politische Nonkonformismus geworden. Damit rückt die irdische WTG ins Zentrum der Bibelauslegung: als "Theokratische Ordnung" schränkt sie sich auf biblisch begründbare Verhaltensweisen, Tugenden und Anschauungen ein und misstraut unabhängigen persönlichen Einsichten oder gesellschaftlichen Gewohnheiten. 1919 startete die Familienzeitschrift "Erwachet!" mit eben diesem Schulungsziel.

Seit 1919 gehört der "Traditionsbruch" zum Systemelement der Zeugen. Der apokalyptisch eingefärbte Anarchismus verwehrt sich nicht nur einer religionsgeschichtlichen, sondern auch einer gesellschaftlichen Einbindung. Religiöse Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen und Kirchen werden negiert und als Variationen von "Satans gesamtem Weltreich der falschen Religion" gebrandmarkt (Die Suche der Menschheit nach Gott. Hg. WTG/Selters 1990). Dem Auszug aus der Christenheit, folgte der Auszug aus dem weltlichen "System der Dinge".

Vergessene Opfer Der Umbruch wurde von Russel-Nachfolger Joseph F. Rutherford (1869-1942) eingeleitet. Nach seiner Haftentlassung 1919 schlug er einen streng separatistischen Weg ein. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg, in dem die Bibelforscher dem Einberufungsbefehl Folge geleistet haben und so sie nicht zur Sanität kamen auch den Waffendienst leisten konnten, wurde im Zweiten Weltkrieg von den Verkündigern der Wachtturm-Gesellschaft - Männern, Frauen wie Kindern - rigoros "Neutralität" in politischen Belangen verlangt: Verweigerung des Hitlergrußes, der Beteiligung an Feuerwehr- und Luftschutzübungen, des Eintritts in Parteigliederungen und in die Wehrmacht. Dieses Nicht-Mitmachen war eine Gruppenentscheidung keine persönliche. 1937 ergab eine Zählung 549 WTG-Mitglieder in Österreich; davon wurden 48 hingerichtet, 13 ermordet, und 81 starben an den Schikanen in der Haft oder im Konzentrationslager.

Am 26. Juli 1931, am Kongress in Columbus (Ohio) erklärte Rutherford: "Wir wünschen, unter folgendem Namen bekannt zu sein und also genannt zu werden: Jehovas Zeugen" (Jehovas Zeugen, Verkünder des Königreiches Gottes. Hg. WTG/Selters 1993).

Um dem Nonkonformismus der Zeugen Jehovas ein öffentliches Ansehen zu geben, macht die WTG seit Mitte der neunziger Jahre in einer Wanderausstellung auf die "Bibelforscher als die vergessenen Opfer der NS-Zeit" aufmerksam. Hier wird das unleugbare Unrecht der Verfolgung aufgezeigt. Parallel dazu ist zu beobachten, dass die WTG tiefgehende Änderungen im Bibelverständnis vornimmt, um dem Sektenvorwurf zu entgegnen und als religiöse Gemeinschaft eine gesetzliche Anerkennung zu erlangen. Getaufte Zeugen können heute den Zivildienst leisten, wenn dieser vom Wehrersatzdienst entkoppelt und wenn er wirklich eine gute Sache ist (Wachtturm, 1. Mai 1996); der Besuch von Wahllokalen ist nicht verboten, die Wahlenthaltung gilt als Gewissensentscheidung (WT 1. November 1999). Verstärkt wird vor einer "Apathie gegen Religion" gewarnt, die durch politische Aktivitäten entstehen könnte (WT 1. Mai 1999). Im Juli 1998 wurde den Zeugen Jehovas in Österreich der Rechtsstatus einer staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft zuerkannt.

1935 - Der neue Tempel Im Juli 1935 wurde in Österreich der Verein der WTG aufgelöst - und in den USA löste der Zeugen Jehova-Kongress in Washington für den Großteil der Zeugen die Hoffnung auf, in den Himmel zu kommen: Dies stehe nur der privilegierten Klasse der "144.000 Gesalbten" zu. Im Gegensatz dazu, sei die Klasse der "großen Volksmenge", von der ja in der Bibel die Rede sei, sichtbar geworden. Diese werde durch die große Drangsal hindurchgehen müssen - dafür werde sie aber das ewige Leben auf der paradiesischen Erde erlangen. Beide Klassen zusammen bilden eine "organisierte Nation", die nicht nur in Konkurrenz zur Welt steht, sondern bereits das "geistige Paradies" erlebt.

Mit der Gesalbten-Klasse hat sich die WTG eine Mitregentschaft (mit Christus) im Himmel organisiert. Dies bringt eine Steigerung der Autorität der Organisation mit sich und ermöglicht den nötigen Spielraum zu einer neuen Umstrukturierung. Da die 1935 bestimmten Gesalbten aus Altersgründen zahlenmäßig abnehmen, werden ihre geistigen Aufgaben nun den irdischen Gläubigen übertragen (Wachtturm 15. Januar 2001). Somit bleibt die WTG "theokratisch", auch wenn die Organisation zunehmend in "weltliche Hände" gelegt wird.

Der eindringliche Anspruch auf Loyalität gegenüber Jehovas Organisation wird also auch in Zukunft nicht verstummen; die relativierende Behauptung, nicht vollkommen zu sein, vielleicht öfter vorkommen. Mit ihren 5,8 Millionen Verkündigern aus allen Teilen der Erde (20.167 in Österreich), finden die Zeugen, dass die weltweite Predigt vom Messianischen Königreich gemäß dem Evangelisten Matthäus (Mt 24,14) erfüllt sei und die Vernichtung der falschen Religion bald beginnen werde. Mit dieser Einschätzung stehen die Zeugen Jehovas alleine da. Die Realität lässt sich aber auch mit Hilfe von Bibelversen nicht verleugnen.

Der Autor ist Referent für Weltanschauungsfragen der Diözese Innsbruck. Demnächst erscheint seine ausführlichere Darstellung der Zeugen Jehovas in der Reihe "Werkmappe"der Arge Referate für Weltanschauungsfragen der Kath. Kirche.

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