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Leistung zählt mehr als Liebe

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In Deutschland wurde ermittelt, daß unter Selbstmördern ehemalige Zeugen Jehovas die relativ größte Gruppe bilden. An dieser Sekte, die heute in Österreich etwa 20.000, weltweit 3,5 Millionen Mitglieder zählt, führt kaum ein Weg vorbei. Wer ihre "Prediger" noch nicht an der Haustür erlebt hat, dem sind sie sicher schon an belebten Plätzen mit der Zeitschrift "Wachtturm" begegnet.

Für Peter Pross, einen leitenden Angestellten einer Versicherung in Wien, ist das Kapitel Zeugen Jeho-vas nach fast 20jähriger Zugehö-rigkeit abgeschlossen - er kann ruhig und gelassen darüber reden: "Ich wuchs in einer katholischen Umge-bung auf, hatte aber kaum Wissen über die Bibel. Da läutete eine ältere Dame bei mir an, eine sehr intelligente Person, und führte mit mir ein Gespräch über die Bibel."

Heute kennt Pross aus eigenen Aktivitäten die Gesprächstechnik der Zeugen bestens und weiß, daß auch Leute, die scheinbar keine re-ligiöse Antenne haben, ansprechbar sind: "Die Zeugen argumentieren sehr stark mit den Zeichen dieser Zeit. Sie sagen, daß das derzeitige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche System vor dem Zusammenbruch steht. Diese Aus-sage verbinden sie mit diversen Endzeitprophezeiungen der Bibel und stellen geschickt die Frage, wie man sich vorstelle, daß die derzeiti-gen Probleme gelöst werden können, wobei sie an der Antwort gar nicht interessiert sind. Sie hören sich das nur an und sagen dann, wie sie das aufgrund der Bibel sehen: Es werde ein Eingriff durch Gottes Königreich erfolgen, Gott werde dann auf der Erde diesem ganzen System ein Ende bereiten und seine Regierung aufrichten." Die Zeugen Jehovas haben in den letzten 115 Jahren immer wieder das Jahr dieses Eingreifens Gottes neu berechnet und verkündet: Zuerst gaben sie 1914 an, zuletzt 1975.

Peter Pross sieht darin heute einen deutlichen "Gegensatz zur klaren Aussage Jesu: Kümmert euch nicht um Zeitberechnungen!" Anfangs aber war er von den Lehren und der Bibelfestigkeit der Zeugen begeistert: "Die Organisation arbeitet psychologisch sehr gut. Wenn sie irgendwo verfolgt werden, dann weisen sie aufs Matthäus-Evan-gelium hin - es wurde ja prophezeit, daß echte Christen verfolgt werden. Wenn es ihnen sehr gut geht, sagen sie: Natürlich, Gott hat ja versprochen, daß er sein Volk seg-nen wird. Was immer passiert, sie können es biblisch interpretieren.

Was mich fasziniert hat: Den großen Kirchen ist es ja in den letz-ten anderthalb Jahrhunderten nicht mehr so gelungen, die Leute für sich zu gewinnen. Es wird ihnen mit einigem Recht nachgesagt, daß sie in der Geschichte Macht ausgeübt haben, was Jesus ja sicher nicht wollte. Und jetzt kommen die Zeu-gen Jehovas und sagen: Das hat Gott alles nicht gewollt,wir zeigen Ihnen jetzt, was wirklich in der Bibel steht. Da viele Leute gar nicht wis-sen, was in der Bibel steht und daß dort auch Prophetien stehen, und da die Zeugen Jehovas die Prophetien sehr gut, nämlich motivato-risch, aufbereiten, kommen unin-f ormierte Leute zu dem Schluß: Das sind die einzigen, die eigentlich die Bibel verstehen."

Pross betont, daß jedem, der in diese Organisation hineinkommt, eingeschärft wird, er habe die abso-lute Wahrheit, und alle anderen Religionen seien nach der Of-fenbarung die "große Hure Ba-bylon". Man habe mit denen nichts gemeinsam. Die Aufgabe sei nur, aufrichtige Menschen aus diesen Organisationen herauszuholen. In ihren graphisch sehr gut gemachten Publikationen weisen die Zeugen permanent auf die historischen Fehler hin, die andere Religionsge-meinschaften gemacht haben.

Sehr kritisch sieht Pross die In-nenwelt dieser Sekte: "Die Zeugen Jehovas haben in vielen Ländern auf Religionsfreiheit gepocht und bis zu den obersten Gerichtshöfen Prozesse geführt, um als Religions-gemeinschaft anerkannt zu werden. Interessant ist eines: Wenn sie dann ihre Arbeitsberechtigung dort haben, führen sie dann - auf manipu-lativer Basis - in den eigenen Reihen einen stärkeren Terror durch, als er überhaupt in einem politischen System passiert."

Die Zeugen Jehovas machen in der Woche fünf Zusammenkünfte (Versammlungsbuchstudium, theo-kratische Predigtschule, Dienstzusammenkunft, öffentlicher Vortrag, ,,Wachtturm"-Studium), auf drei Zeiträume aufgeteilt. Die Leute müssen sich dafür auch vorbereiten. Innerhalb der Versammlungen gibt es Älteste und Dienstamtsgehilfen. Kreisaufseher und Bezirksauf seher kontrollieren regelmäßig die Versammlungen. In jedem Land gibt es eine leitende Körperschaft, zur Finanzierung dienen nur freiwillige Beiträge. Notwendige Räume werden meist selbst adaptiert, was kein Problem ist, da in einer Versammlung viele Berufsgruppen vertreten sind. Das Land steht mit der Zentrale in Brooklyn (USA) durch Zonenaufseher in Verbindung.

"Wachtturm-Gesellschaft" lautet der juridische Name der Organi-sation, die eher einem Wirtschafts-unternehmen als einer Religion ähnelt. In Mexiko sind die Zeugen Jehovas, wie Pross zu seinem Be-fremden erfuhr, als kulturelle Ver-einigung aufgetreten, als ein Gesetz verbot, daß Religionsgemein-schaften über Besitz verfügen. Pross meintheute: "DieOrganisationwar in manchen Aussagen wichtiger als Gott selber. Die Zeugen Jehovas sind für mich im Alten Testament steckengebliebene Christen. Das Organisationssystem ist gewaltig, aber genau darin liegt auch die Un-menschlichkeit. Liebe ist weit unten angesiedelt."

Was Peter Pross noch störte: "In dieser Organisation wird wahnr sinnig stark die Selbstgerechtigkeit gefördert, die Leute werden gemes-sen an ihrem Predigtdiensteinsatz. Jeder Verkündiger auf der ganzen Welt muß monatlich einen Bericht abgeben, wieviele Stunden er in die-sem Monat gepredigt hat, bei wie-vielen Leuten er ein zweites oder drittes Mal war, wieviele Zeit-schriften er abgeben konnte, wie-viele Bücher er verkauft hat und wieviele Heimbibelstudien er führt. Diese Berichte sind für die Ältesten in der Versammlung die Seismo-graphen, um festzustellen, wie weit sich jemand mit diesen Dingen identifiziert."

Wer das ganze Programm an Ver-sammlungen und Predigtdiensten macht, hat keine Freizeit mehr, und dahinter steckt für Pross Absicht: "Man hat, so seltsam es klingt, nicht die Zeit, die Bibel wirklich zu lesen und zu studieren. Man liest sie nur unter dem Einfluß der Wachtturm-Gesellschaft und unterliegt geistig einer Gehirnwäsche. Nach einer gewissen Zeit ist man echt manipuliert, ohne es zu wissen. Ich kann auch als Insider nicht sagen, ab wo eine Ebene beginnt, wo Leute sehr genau wissen, was sie da wirklich tun. Ich traue mich zu sagen, auch in der leitenden Körperschaft in Amerika sind ein paar, die es absolut aufrichtig meinen, und dann sind zwei, drei drinnen, die wissen genau, was wirklich geschieht."

Das Bildungsniveau ist eher nied-rig, Zeugen Jehovas bekennen sich alle stark zu ihrer Gruppe und ma-chen alles andere, vor allem "Ab-trünnige", schlecht: "Wird jemand ausgeschlossen wird, darf ihn keiner mehr grüßen und mit ihm reden. Damit verhindern sie, daß der Ausgeschlossene sich rechtfertigen kann. Dann werden Gerüchte über ihn verbreitet (Alkoholiker, Ehe-brecher et cetera), um sagen zu können, daß es um den eh nicht schade war, weil der in Wirklichkeit ja ganz mies ist. Das spielen sie in jedem einzelnen Fall durch und interpretieren Bibeltexte entspre-chend: Wer die Organisation nicht akzeptiert, gehört weg."

Pross erlebte, wie ein erblindeter Glaubensbruder sein Dienstamt verlor, weil er in Rechtskomitee-fällen (Ausschlußverfahren) immer Barmherzigkeit walten ließ, und schließlich in Abwesenheit ausge-schlossen wurde, nachdem er wegen seines Gesundheitszustandes ersucht hatte, die Rechtskomiteesitzung an seinem Wohnort abzuhalten. Die Zeugen Jehovas machen nämlich solche Sitzungen nur in ihren Königreichsälen, die sie als "neutralen Ort" bezeichnen (wo sie aber als Hausherren Tonband-aufnahmen verweigern können).

Pross bekam vor zwei Jahren ernste Bedenken: "Nachdem tödli-chen Herzinfarkt eines befreundeten Zeugen Jehovas sagte ich: Wenn einer gerade ein Unternehmen aufbaut, sollte er nicht bei uns noch ein Dienstamt haben und 90 Stunden predigen gehen, das kann nicht gut gehen. Darauf schrie mich einer an: .Dann, hätte er halt den Job aufgegeben, das Predigen ist viel wichtiger! Die Welt, die brauchen wir nicht!' Das habe ich als sehr unmenschlich empfunden.

Kurz darauf erfuhr ich, daß 1982 aus der leitenden Körperschaft in Brooklyn Raymond Franz, Neffe des heutigen Zeugen-Präsidenten Frederick Franz, ausgeschlossen worden war und ein Buch geschrieben hatte: ,Der Gewissenskonflikt'. Als ich die Hälfte dieses Buches gelesen hatte, wußte ich, ich muß weg von den Zeugen Jehovas."

Neben vielem anderen berichtete Franz: In Malawi verlangte Mitte der siebziger Jahre der Präsident, daß jeder Staatsbürger eine Parteikarte der Einheitspartei kaufen müsse. Zeugen Jehovas lehnen Beteiligung an Politik prinzipiell ab (weil die Welt für sie des Teufels ist), leisten keinen Wehrdienst, wählen nicht (oder bei Wahlpflicht ungültig). Die Zeugen in Malawi lehnten daher auf ausdrückliche Empfehlung der Zentrale in Amerika dieses Ansinnen ab und wurden daraufhin blutig verfolgt und zu Tausenden getötet.

In Mexiko, so Franz, war es bei den Zeugen Jehovas zur gleichen Zeit üblich, den Wehrdienst zwar nicht zu leisten, ihn aber auch nicht zu verweigern, sondern sich gegen Bestechung nie abgediente Wehr-dienstzeiten bestätigen zu lassen und damit in der Militärreserve aufzuscheinen. Die Lage in Malawi machte nun den Zeugen in Mexiko Gewissensbisse, und sie meldeten das nach Brooklyn. Die Zentrale aber meinte, sie sollten ruhig auf diese Weise weitermachen, aber im Kriegsfall müßten einberufene mexikanische Zeugen Jehovas auf ihr Gewissen hören. Keineswegs aber war die Zentrale bereit, ein-zugestehen, daß man punkto Mala-wi mit anderem Maß gemessen und etwas zur Grundsatzentscheidung erklärt hatte^ was eine Gewissens-entscheidung gewesen war.

Den Geist Gottes vermochte Peter Pross in solchen Vorgängen nicht zu erkennen, und nach einigen kri-tischen Äußerungen wollteman ihn vor ein Rechtskomitee laden. Dazu ließ er es nicht kommen, gab nur ei-nem befreundeten Zeugen auf die Frage, was für ihn das Volk Gottes sei, folgende Antwort: "Das Volk Gottes geht quer durch alle Reli-gionen, es kann nie an eine einzelne Organisation gebunden sein." We-nige Tage später teilte man ihm mit, daß ihm die Mitgliedschaft an der Gemeinschaft entzogen sei.

Das Resümee von Pross lautet: "Ich bin den Leuten heute noch nicht böse, sie tun mir leid. Sie irren herum und glauben, sie können sich mit Qualen und Zeitaufwand das ewige Leben verdienen. Und das spielt's nicht. Mir ist aufgefallen, es gibt genau genommen nur drei Gruppen ohne Charismatik: die Zeugen Jehovas, die Adventisten und die "World Wide Church" in Amerika. Heute ist mir klar, warum. Weil alle drei in ihrer Lehrmeinung in letzter Konsequenz sagen: Wir müssen uns unsere Gerechtigkeit durch Gesetzeseinhaltungen, egal, wo diese Gesetze jetzt herkommen, verdienen. Und da sagt Jesus logischerweise dazu: Wenn sie glauben, sie können es sich ver-dienen, wozu brauchen sie mich dann, wozu soll ich ihnen den Geist geben? Dann sollen sie sich weiter anstrengen."

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