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Notizen zur Zeit

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„Ich rede für den Tag, nicht für die Ewigkeit“, bekennt Luise Rinser in ihrem neuen Buch „Baustelle“, dem sie den Untertitel „Eine Art Tagebuch“ gegeben hat. Nicht um „Literatur“ also geht es der Autorin, wie mehrmals vermerkt wird, sondern um die persönliche, verbindliche Auseinadersetzung mit der Zeit, mit ihren politischen, soziologischen, theologischen, religiösen Problemen. Nicht zuletzt auch um die Frage, was der Einzelne tun kann, um „die Welt zu ändern“, schlicht und einfach dem Menschen zu helfen.

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„Ich rede für den Tag, nicht für die Ewigkeit“, bekennt Luise Rinser in ihrem neuen Buch „Baustelle“, dem sie den Untertitel „Eine Art Tagebuch“ gegeben hat. Nicht um „Literatur“ also geht es der Autorin, wie mehrmals vermerkt wird, sondern um die persönliche, verbindliche Auseinadersetzung mit der Zeit, mit ihren politischen, soziologischen, theologischen, religiösen Problemen. Nicht zuletzt auch um die Frage, was der Einzelne tun kann, um „die Welt zu ändern“, schlicht und einfach dem Menschen zu helfen.

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Handfeste Polemik der Autorin gegen politische, gesellschaftliche, kirchliche Mißstände bleibt nie im Negativen stecken, möchte Anstoß zu Besinnung und Wandlung sein. Sie verabscheut es, „Sich mit Wörtern gegen das Elend der Menschheit und des Menschseins abzuschirmen“. Sie will etwas tun, hier und heute. Deshalb sind ihr Programme, welcher Art auch immer — politische, kirchliche —, verdächtig, wenn sie nicht auf reales Engagement für den Menschen abzielen.

Ein Satz von Guardini wird zitiert: „Früher konnte man meinen, der Christ habe eine Aufgabe in der Welt; heute wissen wir, daß die Welt seine Aufgabe ist. Im Zusammenhang mit dem holländischen Pastoralkonzil, an dessen vierter Sitzung Luise Rinser teilnahm, lobt sie, daß die Holländer alle „existentielle Pragmatiker“ seien, daß sie bei ihren theologischen Überlegungen die Frage in den Mittelpunkt stellten, wie die Kirche dem Menschen von heute helfen könne. Ein immer wieder auftauchendes Thema: die Rebellion der Jugend gegen eine falsche Gesellschaftsordnung, die verstanden, ja begrüßt, nicht aber vorbehaltlos in ihren Formen bejaht wird. Wieder ist der persönliche Einsatz entscheidender Maßstab ihrer Beurteilung junger Revolutionäre, denen es ihrer Erfahrung nach oft an der Bereitschaft zu solchem Einsatz fehlt. Hilfsdienst in Krankenhäusern, Entwicklungshilfe — mit solchen Dingen beschwichtige man nur das Weltgewissen, sagen die jungen Leute, „man müsse die bürgerliche Gesellschaft an sich selbst zugrunde gehen lassen“. Gewiß keine überzeugenden Parolen für Luise Rinser, die dahinter Bequemlichkeit wittert, Ausweichen vor dem, was eigene Opfer fordert. Bei einem Weihnachtsbesuch in einem Frauengefängnis die andere tröstliche Erfahrung, daß junge Mädchen dort entschlossen sind, nach der Entlassung soziale Arbeit zu leisten.

Dies nur einige Themen der zeitkritischen Überlegungen der Autorin. Daneben notiert sie Augenblickseinfälle, Beobachtungen, Geschichten, Anekdoten — ein buntes Mosaik, durch das sich wie ein roter Faden das Bekenntnis zu einer christlich fundierten Humanität zieht. Christentum bedeutet für sie Leben für die Mitmenschen.

Ein Vorzug des Buches, daß Luise Rinser den Leser mit dem privaten Bereich verschont, der in ihren früheren Publikationen oft allzu breiten Raum einnahm. Hier geht es um Allgemeines, um brennende Zeitprobleme, denen die Autorin sich stellt; die sie, fern jeder Schablone, gescheit und eigenwillig nicht nur analysiert, für deren weitere Entwicklung sie sich mitverantwortlich fühlt.

„BAUSTELLE.“ Eine Art Tagebuch. Von Luise Rinser. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1970. 390 Seiten. DM 24.—.

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