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Kleine Stdte sind voller Geschichten ...

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Kleine Städte sind voller Geschichten, aber nicht bloß die Idylle hat dort ihren Schauplatz; wer in der Provinz gelebt hat, weiß, daß die kleine Stadt mit ihrer undurchlüfteten Enge oft auch der Ort für dunkle, vom ausweglos Bösen gezeichnete Geschichten ist. Eine solche Geschichte erzählt uns Luise Rinser in ihrem neuen Roman „Der Sündenbock“, der bei S. Fischer erschienen ist (202 Seiten, Preis SO DM). Der Ausgangspunkt ihret Erzählung ist der Tod einer reichen, aber wegen ihres Geizes verrufenen alten Dame. Sie stirbt im Krankenhaus an den Folgen eines Sturzes über die Treppe in ihrer Wohnung, man hat sie dort aufgefunden. Es sieht aus wie Unglücksfall, aber nun erhebt sich der Verdacht, es sei Verbrechen gewesen, und er richtet sich gegen die Leute, die unter dem Geiz der Alten gelitten haben. Da ist vor allem ihre junge Verwandte, die fünfzehnjährige Alexandra, ein elfisches rothaariges Wesen, sie ist wie ein kleiner Dämon gezeichnet, und es wäre ihr zuzutrauen, daß sie aus Erbitterung und Haß die hartherzige Alte über die Treppe hin-untergestoßen hat. Erst zuletzt stellt sich heraus, daß jemand anderer schuld ist an dem Tod der Alten, Aber auch diese wirklich schuldige Person hat ein Verbrechen nicht eigentlich handgreiflich begangen. Trotzdem erscheint sie nun als der Sündenbock, der nach dem Wort aus dem 3. Buch Mosis, das dem Roman als Motto vorangestellt ist, alle Missetat auf sich nehmen muß. Sie will es auch tun, aber ihr Bekenntnis kommt - zu spät, die junge Alexandra läuft aus Verzweiflung über das Geschehene in das Haus der Toten, zündet es an und kommt in den Flammen um.

Verhängnis ist das Ende, und dieser Schluß liest lieh wie illuminierte Kolportage, aber das soll hier nicht erörtert werden. Etwas anderes macht uns den Roman Luise Rinsers merkwürdig. Das Verhängnis für alle Beteiligten kommt nicht von der Täterin. Es kommt, wie in dem Buch ausdrücklich festgestellt wird; von dem Versuch, das Unrecht um jeden Preis aufzudecken. Es ist der Kriminalkommissar des Ortes selbst, der, nachdem er den Versuch unternommen und durchgeführt hat, zu dieser Erkenntnis gelangt.Und er zieht daraus auch die Konsequenzen. Am nächsten Tag, so heißt es, quittiert er seinen Dienst.

Mit dieser Wendung wird deutlich, worum es Luise Rinser in ihrem Buch geht. Nicht um eine Kriminalgeschichte, wie es vordergründig aussieht, sondern um ein symbolhaftes Ereignis. Es soll gezeigt werd.m, daß der Mensch aus eigener Kraft mit Schuld und Wahrheit nicht fertig werden kann. Luise Rinser hat, so darf man vermuten, die Möglichkeiten der Alternative, die sie in ihrer Welt besitzt, diesmal absichtlich ausgespart, um uns vorzuführen, wie verzweifelt ausweglos und von Dämonen beherrscht das Leben sein muß, das sich nur auf sich selbst berufen kann. Aber ihre Darstellung überzeugt uns nicht von dieser Auffassung, und vielleicht liest das gerade an ihrer Absicht, durch die krasse Folie des Negativen dem Leser ein Verlangen nach dem ausgesparten Positiven hervorzurufen,.— es scheint, daß das überaus empfindliche Material, aus dem ein Kunstwerk gemacht istu.Motiy. Symbolkraft. Stoff, Sprache, solche Absichten nicht verträgt. Gewiß, Luise Rinser schildert nicht eine reale Kleinstadt, sondern einen gleichnishaften Ort, und stellenweise ist ihre Darstellung dichterisch und stark, so etwa, wenn sie Schauplätze entwirft wie den „Grünen Markt“, auf dem die Gerüchte entstehen, oder die Landschaften der Schutthalde; hier lebt in der Wirklichkeit zugleich das Geisterhafte und tritt beklemmend nahe. Aber im Ganzen reicht ihre Kraft diesmal nicht aus, um die zweite Ebene, auf die es ihr doch ankommt, in er ersten Ebene festzuhalten. Auf eindringliche Szenen folgen Stellen, vor allem in den Dialogen, die stark abfallen, und die Spannung entleert sich gerade dort ins Banale, wo man auf Substanz gefaßt ist: in den Szenen im Krankenhaus und in den bäuerlich stilisierten Bekenntnissen der schuldigen Hauptperson. Da wird alles zusehr Klischee und dicker Aufstrich, und das ist schade. Ein interessantes Buch. Aber es liegen zu viele Drücker auf der Geschichte, und sie hat zu wenig Transparenz, als daß sie sein könnte, was sie sein will: ein gültiges Symbol.

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