"Mein erster Film als Mann"

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Regie-Wunderkind Xavier Dolan über "Einfach das Ende der Welt" sowie über Filmen als Therapie und seine heißblütigen Selbstzweifel.

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Regie-Wunderkind Xavier Dolan über "Einfach das Ende der Welt" sowie über Filmen als Therapie und seine heißblütigen Selbstzweifel.

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Xavier Dolan gilt als das Wunderkind des kanadischen Kinos. Nach Filmen wie "I Killed My Mother", "Mommy" oder "Herzensbrecher" legt der erst 27-Jährige erneut ein fahriges, dichtes Drama vor, das er "Einfach das Ende der Welt" getauft hat und in dem ein junger Mann nach langer Zeit zu seiner Familie zurückkehrt, um ihr von seinem nahenden Ende zu berichten. Doch bis es soweit ist, müssen erst einmal die Schranken der nicht geglückten Kommunikation fallen.

Die Furche: Sie haben als 20-Jähriger ihren ersten Film gedreht, jetzt mit 27 sind es schon sechs. Wieso haben Sie es so eilig?

Xavier Dolan: Ich arbeite gerne schnell und viel. Ich finde, man sollte die Zeit nutzen und auch seine Jugend. Wir haben nicht ewig Zeit auf dieser Welt. Wozu also warten?

Die Furche: Auf mich wirken Ihre Filme sehr persönlich. Liege ich damit falsch?

Dolan: Meinen Sie, ob sie eine Art Therapie für mich sind?(lacht) Seien Sie sicher: Meine Arbeit ist niemals weit von dem entfernt, was ich bin oder was ich liebe. Denn ich will ja keinen Blödsinn erzählen, sondern von etwas, das ich kenne. Nur so wird es authentisch.

Die Furche: Sie lassen sich stilistisch nicht gerne festlegen, das sah man besonders ihrem vorletzten Film "Mommy" deutlich an.

Dolan: Der Film berührte verschiedene Genres: Er ist sowohl melodramatisch als auch komisch, er hat etwas von einer Seifenoper - so ist doch das Leben auch! Es gibt komische, absurde Momente im Leben, und auch sehr dunkle, schreckliche Zeiten. Man kann als Regisseur zwischen den Genres ruhig munter wechseln, solange die Schauspieler den ganzen Film über in der Figur bleiben.

Die Furche: In "Einfach das Ende der Welt" entsteht zwischen den Protagonisten eine Nähe, die manchmal nur schwer erträglich ist; manche Nähe wirkt zärtlich, manche aggressiv. Sie selbst sind mit der Kamera auch immer sehr nah dran.

Dolan: Dieser enge Blick aufs Leben lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums besser auf die Figuren. Man ist gezwungen, den Figuren nahe zu kommen. Darum geht es.

Die Furche: Ist das auch eine Reaktion auf die immer größer und lauter werdenden Filme aus den Multiplexkinos?

Dolan: Ich drehe keine Filme, um damit auf irgendetwas oder irgendjemanden zu reagieren. Aber es gibt viele Regisseure, die nur daran denken, wie toll ihre Bilder ausgestattet sind, aber nie an das Innenleben ihrer Figuren. Das ist doch Verschwendung!

Die Furche: Der Film entstand nach einem Theaterstück von Jean-Luc Lagarce. Wie taten Sie sich bei der Adaption?

Dolan: Meine Freunde hatten Zweifel, dass ich das hinbekomme. Denn zwar hatten sie mir empfohlen, das Stück zu lesen, weil es genau meine Art von Geschichte wäre, aber dann fragten sie mich: "Wie willst du denn Lagarces Sprache adaptieren? Außerdem ist diese Sprache keine filmische. Und wenn du sie verlierst - warum dann überhaupt Lagarce adaptieren?" Aber ich wollte die Sprache nicht verlieren. Im Gegenteil: Die Herausforderung bestand für mich darin, sie zu bewahren und zwar so vollständig wie nur möglich.

Die Furche: Wie haben Sie das gemacht?

Dolan: Lagarces Themen und die Emotionen der Charaktere, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Einsamkeit, ihre Sorgen, ihre Minderwertigkeitskomplexe, waren mir sehr vertraut. Aber die Sprache war mir fremd. Voller Ungeschicklichkeiten, Wiederholungen, grammatikalischen Fehlern. Ich wies die Schauspieler an, die Dialoge genau so zu sprechen wie in Lagarces Vorlage. Das wirkt vielleicht fahrig und nervös, aber genau darum geht es hier.

Die Furche: Wie sind Sie überhaupt auf das Stück gestoßen?

Dolan: Anne Dorval, die Schauspielerin aus "I Killed My Mother", hat es mir 2010 empfohlen, weil sie selbst mal darin mitspielte. Aufgrund einer Art geistiger Blockade fand ich weder Zugang zu den Figuren, noch zur Geschichte und war nicht in der Lage, das Stück zu mögen, das mir von Anne so angepriesen wurde. Ich war wahrscheinlich zu beschäftigt mit einem dringenden Projekt oder mit der Überlegung eines neuen Haarschnitts, um die Tiefe dieser ersten Lektüre zu spüren. Erst vier Jahre später, nach dem Dreh von "Mommy", holte ich das Buch wieder hervor und plötzlich machte es klick. Ich musste wohl reifer werden, um es zu verstehen. Es ist sozusagen mein erster Film als Mann.

Die Furche: Über Jean-Luc Godard sagten Sie, Sie hielten ihn für überschätzt, als Sie sich 2014 den Preis der Jury in Cannes teilen mussten. Sie haben viel Selbstbewusstsein!

Dolan: Ich bin kein Fan seiner Arbeit. Was Godard gemacht hat, ist alles sehr ehrbar und verdient Respekt, aber ich kann mit seinem kalten, konzeptuellen Kino nichts anfangen. Ich versuche, mich den Gefühlen meiner Figuren voll zu widmen, während Godard immer über große Ideen sinniert. Ein paar Leute, die über eine Brücke laufen, das wirkt vielleicht sehr künstlerisch. Godard lebte in einer Zeit, die er selbst bestimmte, und das ist großartig. Aber sein Kino berührt mich nicht. Was die Frage zum Selbstbewusstsein angeht: Es stimmt nicht. Denn ich bin ein großer Zweifler. Deshalb lese ich alles, was ich über mich finde. Es gibt nur eine Sache, die ich wirklich richtig mache, da bin ich mir absolut sicher: Und das ist die Führung meiner Schauspieler. Da macht mir keiner etwas vor.

KRITIK ZU "eInFaCh das ende deR WelT"

Alte und neue Verschwiegenheit

Auch wenn Xavier Dolan seine früheren Filme im nebenstehenden Interview als "Bubentorheiten" und "Einfach das Ende der Welt" als seinen ersten Erwachsenenfilm abzutun scheint, sollte man das nicht gleich für bare Münze nehmen. Denn es stimmt zwar, dass hier das Setting ernster und das Überschäumende an Dolans visuellen und dramaturgischen Ideen gebremst entgegentritt. Aber diese Beschränkung ermöglicht es dem noch so jungen Regie-Tausendsassa, sich vollständig auf die Zeichnung und Führung seiner Charaktere zu konzentrieren. Und das verlangt ja das gleichnamige Kammerspiel von Jean-Luc Lagarce zweifelsohne. Der gefeierte Stückeschreiber Louis, 34, kehrt nach zwölf Jahren aus der Metropole in seine Heimat-Kleinstadt zurück. Er will seinen "Lieben" - Mutter Martine, die jüngere Schwester Suzanne, den älteren Bruder Antoine und dessen Frau Catherine - sehen und ihnen eröffnen, dass er schwer krank ist und demnächst sterben wird. Doch aus dem trauten Abschieds-Wiedersehen wird nichts, denn Louis kann seine Hiobsbotschaft nicht anbringen: Unter den Zurückgebliebenen brechen alte und/oder lang verschwiegene Konflikte auf, und auch Louis kriegt sein Fett ab, da er die Seinen mit seinem Abgang vor zwölf Jahren im Stich gelassen habe. Ein dichtes Geflecht von Hass und Verbitterung wird sichtbar, dem sich auch Louis kaum entziehen kann: es ist der nervtötende Alltag, der unausgesprochene Konflikte nicht zur Sprache kommen lässt, sodass die existenzielle Bedrohung, die Louis mit den Seinen teilen will, gar nicht mehr in den Blick gerät.

"Einfach das Ende der Welt" gehört in Frankreich zu den meistgespielten Stücken und zur Maturalektüre an den Schulen. Autor Jean-Luc Lagarce hat auch Biografisches darin verpackt - er schrieb das Stück 1990 mit 34 Jahren und starb vier Jahre später an Aids - die Uraufführung 1999 erlebte er nicht mehr. Diese Hintergründe fängt Xavier Dolan in seiner Verfilmung implizit ein, die Beklemmungen wie auch das Verständnis fürs Verhalten der zerrissenen Sippschaft wird auch beim Zuschauer wirkmächtig. Die Besetzung des Films versammelt eine Starriege des französischen Schauspiels - Gaspard Ulliel als Louis, Nathalie Baye als Mutter Martine, Léa Seydoux spielt die Schwester Suzanne und Vincent Cassel den unausstehlichen Bruder Antoine. Und Marion Cotillard, die hierzulande zum Jahreswechsel gleich in drei Filmen zu sehen ist, gibt Schwägerin Catherine, die ein wenig wie die Jungfrau zum Kind in diese Familienaufstellung kommt - die aber gleichzeitig den Katalysator bildet, damit die alten Verschwiegenheiten endlich aufbrechen. Eine ernste, dichte - und große Verfilmung eines kleinen Kammerspiels. (Otto Friedrich)

Einfach das Ende der Welt (Juste la fin du monde)

CDN/F 2016. Regie: Xavier Dolan. Mit Gaspar Ulliel, Marion Cotillard, Léa Seydoux. Filmladen. 95 Min. Ab 30.12.

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