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Wegweiser durch das Kaleidoskop der Hamlet-Deutungen

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Da ich während des 18. und 19. Jahrhunderts immer wieder Dichter und Philosophen um eine Deutung, um da Verständnis von Shakespeares Hamlet bemühten, war es ein dankenswertes Unternehmen, diese verschiedenen Auffassungen, im Grunde „der Herren eigner Geist“, Revue passieren zu lassen. Ausgehend von Goethes berühmter Hamlet-Deutung (vor allem in den „Lehrjahren“), von seiner Auffassung Hamlets als des Menschen zwischen Chaos und Kosmos, über Friedrich Schlegels Deutung von Hamlets Leiden als dem Leiden der Individuation ergibt sich dem Verfasser die Geschichte der Hamlet-Interpretation als ein Spiegelbild der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert. Lüthis Buch darf das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, die in der Tat besonders interessante Geschichte der Hamlet-Auffassung übersichtlich und anschaulich dargestellt zu haben. Das war eine Aufgabe, die einmal erledigt werden mußte, da Gundolfs Buch „Shakespeare und der deutsche Geist“ doch oft recht ins Summarische geht. Es ist gewiß von Interesse, daß di heute weitverbreitete Auffassung Hamlets als Tragödie der Reflexion zum ersten Male von dem Hegelianer Ed. Gans ausgesprochen wurde. An die Seite der spekulativen und philosophischen Hamlet-Deutung tritt die realistisch-psychologische eines Gervinus, Grabbe, Börne und Kierkegaard. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß gerade Börne den religiösen Grundcharakter des „Hamlet“ betont, worauf dann Kierkegaard weiterbaut. Man begreift, daß das Junge Deutschland am Menschen eine vor allem schätzte: Tatkraft. Einer solchen Anschauung mußte Hamlet als der Inbegriff der romantischen Krankheit und als Gleichnis des politischen Zustande Deutschlands in der Zeit des Vormärz erscheinen. Freiligrath rief denn auch aus: „Deutschland ist Hamlet!“ — Die Hamlet-Deutung vom Ende de Jahrhunderts ist durch Richard Loening (Deutung auf Grund der Temperamentenlehre, des Melancholikers) und Karl Hebler vertreten. Eine besondere Gruppe von Interpreten leitet Hamlet tragische Lo us seiner Genialität her. Dies war die Zeit von Lombroso, die Zeit deT Psychologie des Genialen. Schon Fr. Th. Vischer hatte damit begonnen. Der hierher gehörige H. Türck erneuerte im Grunde die Schopenhauersche Auffassung Hamlets als genialer Mensch.

Lüthi sieht in der Hamlet-Deutung stets eine Auseinandersetzung mit dem Geiste der Romantik. Er gibt mit seinem Buch solide Maßarbeit. Es hat mich immer gewundert, daß Hamlet nie eine vollgültige, idealtypische Ausprägung erfahren hat wie zum Beispiel Apollo im Apollinischen, Dionysos im Dionysischen, Juno im Junonischen usw. Während etwa über das Wesen des Dionysischen zwischen Schelling, Burckhardt und Nietzsche nie eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit bestand, gibt es eine kaum überblickbare Vielfalt von Hamlet-Deutungen. Das Interessante an diesen Deutungen sehe ich darin, daß alle diese Aesthetiker die H a n d-1 u n g des Shakespearischen Dramas Hamlet zu klären versuchen; das „Hamletische“ selbst tritt gegenüber den Rätseln zurück, die Shakespeares Drama als Kunstform aufgibt. Und doch ist Hamlet die einzige Gestalt der Weltliteratur, die von ihrem Schöpfer so angelegt wurde, daß sie neben der idealtypischen Ausprägung der griechischen Götter im 19. Jahrhundert zu bestehen vermag — zwar nur in nebelhaften Umrissen, aber dennoch. Dabei freilich ist diese menschlich-universale, diese Planetenseele Hamlet nur mit dem Mythos seines nur ihm eigenen Handlungsverlaufes denkbar — so untätig uns der Dänenprinz auch erscheinen mag. Das alles zusammen macht die einzigartige Erscheinung dieser Gestalt aus. Da muß denn doch gesagt werden, daß niemand stärker als Heine den mythisch-idealtypischen Grundzug von Hamlets Gestalt entdeckte, der ihm als Synthese wie auch als Konflikt zwischen Hellenen und Nazarener erschien. Gerade der für das 19. und frühe 20. Jahrhundert so überaus bestimmende Konflikt zwischen Leben und Geist hätte in der symbolischen Gestalt Hamlets seinen mythischen Ausdruck finden können. Das ist leider meines Wissens nie völlig gelungen. Lüthis Buch darf als trefflicher Wegweiser durch das Kaleidoskop der Vielfalt von Hamlet-Deutungen bestens empfohlen werden.

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