Die Zeit ist aus den Fugen

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Hass, Rache,Vergeltung: worüber "Hamlet" einst verzweifelt sinnierte, beschäftigt auch heute Politiker und Gesellschaft in dramatischer Weise.

Was haben George W. Bush und Hamlet gemeinsam? Beiden ist es aufgegeben, ein gewaltiges Unrecht zu sühnen. Beide verwendeten im ersten Augenblick der Bedrohung Ausdrücke der Rache: der amerikanische Präsident, nachdem er von den als Bomben verwendeten Flugzeugen erfuhr, Hamlet, als ihm sein verstorbener Vater als Geist erscheint und ihm mitteilt, er sei von seinem eigenen Bruder ermordet worden, der sich inzwischen die Königswürde angeeignet und Hamlets Mutter geheiratet hat.

William Shakespeare hat vor 400 Jahren das rätselhafteste, schwierigste, interessanteste seiner 37 Dramen geschrieben, in einer Zeit, die aus den Fugen war. Die Jungfräulichkeit der englischen Königin Elisabeth war zur Hypothek geworden: Es gab keinen Thronerben. Wie hungrige Wölfe umkreisten ausländische Mächte und einheimische Adelige das Zentrum der Macht. Dramatisches verspricht der Schöpfer des "Hamlet": "So sollt ihr hörn/ Von lüstern unnatürlich-blutrünstigen Taten,/ Von blinder Himmelsfügung, Zufallsmorden,/ Von Toden durch Verstrickung, List, Gewalt." Und tatsächlich: Hamlets Handeln hinterlässt acht Tote: er selbst, sein verbrecherischer Onkel, seine Mutter, seine Geliebte, deren Vater und Bruder, zwei Schulfreunde (Rosenkranz und Güldenstern).

Rache klingt heute altmodisch. Wir nennen das Phänomen "Selbstjustiz". Sie ist verboten, war schon zu Shakespeares Zeit verboten. "Denn der erste, der Unrecht tut, verletzt das Gesetz nur, wer aber Rache für ein Unrecht übt, der setzt das Gesetz gleich ganz außer Kraft", schrieb Shakespeares Zeitgenosse Francis Bacon 1601 in einem Essay über "Die Rache". Der Staat verlangt das Rechts- und Gewaltmonopol zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Was aber, wenn Repräsentanten eines mächtigen Staates von Rache getrieben werden? Das ist nur einer der vielen Gedanken, die "die Mona Lisa unter den Charakteren der Weltliteratur", wie Hamlet einmal bezeichnet wurde, auslösen kann. War Shakespeare also ein politischer Autor? Hat er zu Fragen seiner Zeit Stellung genommen? Und wenn ja, wie kommt es, dass er nicht veraltet ist, sondern noch heute auf der ganzen Welt gespielt wird und dass ein einzelner Mensch bei durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit, läse er acht Stunden pro Tag, in 70 Jahren nicht alles lesen könnte, was über Hamlet geschrieben worden ist?

Genie ist nicht erklärbar. Wohl aber die Zeitumstände, in denen ein Genie reiche Nahrung für seinen Geist vorfindet. Umbruchszeiten scheinen für große künstlerische Hervorbringungen ein guter Nährboden. Als der Mittdreißiger William Shakespeare seinen "Hamlet" schrieb, ging Englands Goldenes Zeitalter zu Ende. Die Stadt London war im voraufgegangenen Jahrhundert vom Kuhdorf zur Weltstadt gewachsen, mit allen Schattenseiten: Armut, Hurenhäuser, die Pest ... In den Wirtshäusern südlich der Themse zeigte Jahrmarktsgesindel primitiv zusammengeschusterte Theaterunterhaltung, die den puritanischen Stadtvätern ein Dorn im Auge war. Da ereignete sich das elisabethanische Theaterwunder: Shakespeare und anderen großen Dramatikern gelang es, ohne Bühnenbild, ohne Beleuchtung, ohne magisch-schummrigen, illusionistischen Theaterzauber Stücke ans Publikum zu bringen, die bis heute packen, ja erschüttern.

Die Magie geht zunächst von der Sprache aus. In ihr entfaltete Shakespeare einen Kosmos von Gedanken und Gefühlen, schier unauslotbar. Fragt man daher grundsätzlich: Unter welchen Umständen können Künstler ein Publikum dauerhaft erreichen, so lautet die erste Antwort: Sie müssen ihr Handwerk beherrschen. Im Fall der schreibenden Zunft müssen sie alle Register ziehen können, die jeden, den Gebildeten wie das einfache Gemüt, ergreifen. Weder Abgehobenheit noch anbiederndes Nach dem-Mund-Reden bringe den Erfolg.

Was ist das Hauptthema von "Hamlet"? "Wer da?" schreit in der Nacht ein Wachhabender auf den Zinnen der dänischen Königsburg als erste Worte der Tragödie. Der Soldat hat Angst, denn er hat einen Geist gesehen. Der alten Weltordnung, in der Menschen vom Aberglauben beherrscht waren, setzt Shakespeare in Gestalt Hamlets und seines Freundes Horatio aufgeklärte, gebildete junge Leute entgegen. An einen Geist glauben, an Botschaften aus dem Jenseits? Da beginnen bereits Hamlet Zweifel. Seine Zweifel ziehen einen ganzen Staat in Mitleidenschaft. Hamlet äußert sein Grübeln, sein Schwanken, seine Angst, seinen Hass in einem "unnatürlichen" Medium, das von heutigen Dramatikern verschmäht wird: dem Monolog.

Zweifel & Sinnsuche

Aus welchen Gründen hängt dennoch der heutige Theaterbesucher an den Lippen des Schauspielers, wenn dieser vor sich hin sinniert: "Sein oder nicht sein, das ist die Frage:/ Ob' mehr uns adelt wohl im Geist, die Pfeile/ Und Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden,/ Oder das Schwert zu ziehn gegen ein Meer der Plagen/ Und im Anrennen enden: sterben...-schlafen,/ Mehr nicht."

"Hamlet" ist eben nicht nur ein Drama, in dem es um usurpierte Macht und Rache geht, sondern auch um Zweifel und Selbstzweifel: Wer bin ich in einer unsicheren Welt? Das stabile Ich erweist sich als Illusion, die Wirklichkeit als Spiegelkabinett von Täuschungen. 1580 waren in Frankreich Montaignes "Essays" erschienen, 1595 ist die erste englische Übersetzung belegt. Hat Shakespeare das Buch des französischen Skeptikers gekannt? Die Parallelen zwischen Montaignes Innenschau und "Hamlet" sind erstaunlich: "Die Welt sieht immer gerade von sich weg; ich aber wende meinen Blick nach innen, und da halte ich ihn fest und lasse ihn verweilen. Jedermann schaut von sich weg, ich schaue in mich hinein; ich habe es nur mit mir selber zu tun; ich betrachte mich ohne Unterlass; ich habe auf mich acht, ich schmecke mich, ich fühle mich. Andere gehen beständig von sich weg, wenn es um ernste Dinge geht ... Ich kreise in mir selbst." Diese Sätze könnten von Hamlet stammen - oder von uns selbst. Lässt die allgemeine, ansteckende Hektik einmal Zeit, den Blick ins Innere zu richten, was finden wir vor? Ängste, Unsicherheit, Verstörung ... Shakespeares "Über leben" liegt wahrscheinlich darin begründet, dass er nicht nur Fragen der Politik seiner Zeit aufgegriffen hat, "die Dreistigkeit der Ämter, und die Tritte, die der Verdiente stumm vom Nichtsnutz hinnimmt." Er ging ganz nah ans Innerste des Menschen heran: Großaufnahme der conditio humana. Und was zeigt sich da? Hamlet entkommt durch List dem Mordkomplott seines Onkels. Er findet sich auf einem Friedhof wieder. Kaltschnäuzig witzelnde Totengräber befördern gerade den Schädel des lange verstorbenen königlichen Hofnarren Yorick aus der Erde.

In der deutschsprachigen Aufführungstradition gilt Hamlet als der schwarzgekleidete Grübler, der auf dem Friedhof einen Totenschädel in der ausgestreckten Hand betrachtet. Liest man Shakespeares Text genau, ist Hamlet spätestens seit der Friedhofsszene ein Zyniker, der nach vielen Versuchen, aktiv zu werden, jetzt fatalistisch dem Schicksal seinen Lauf lässt: "Wir lehnen Zukunftsschau ab. Es herrscht eine Vorsehung über dem Fall eines Sperlings. Soll es jetzt sein, soll's nicht dereinst sein; soll's nicht dereinst sein, wird es jetzt sein; soll es jetzt nicht sein, so wird es dereinst doch einmal sein. Bereit sein, das ist alles." Wieder schwankt der Boden: Hamlet zitiert Matthäus (X,29) vom "Fall eines Sperlings". Flüchtet der aufgeklärte Wittenberger Student plötzlich in die Arme der Religion? Hat das Stück eine christliche Botschaft? Oder demonstriert Shakespeare hier überlegene Ironie, nach der auf das herrliche Geschöpf Mensch doch nur der Wurm wartet? Kein Fazit. Das Leben: Ein Spektakel. Alles erweist sich als Maske, Rolle, Spiel, Schau. Warum handelt Hamlet so lange nicht? Vielleicht war sein Leitgedanke (oder der seines Schöpfers) der gleiche, wie ihn Montaigne ausdrückte: "Wer alle Umstände bis ins tiefste prüft und alle Folgen bis ins letzte durchdenkt, verhindert seinen eigenen Entschluss."

Am Ende des Stücks wird jedem die Maske heruntergerissen. Und als sich Hamlet endlich zum Handeln aufrafft, bleiben nur Tote übrig. 1989, beim Fall der Mauer, probte der deutsche Schriftsteller und Regisseur Heiner Müller in Ostberlin seinen Acht-Stunden-"Hamlet". Seine Begründung: "Was wäre jetzt ein aktuelles Stück in der DDR? Da fiel mir nur ,Hamlet' ein. Ein Stück, das mit Staatskrisen zu tun hat, mit zwei Epochen und einem Riss zwischen den Epochen. In dem Riss steht ein Intellektueller Spagat, der nicht genau weiß, wie er sich verhält: Das Alte geht nicht mehr, das Neue schmeckt ihm auch nicht."

Wenn die Zeit aus den Fugen ist, findet jeder in einem großen Werk das, was er sucht. Größe: das bedeutet Vielschichtigkeit. Größe verbietet ideologische Festlegung. Größe liegt nicht in den zungenfertigen Antworten, sondern in den richtigen Fragen.

Die deutschen Hamlet-Zitate stammen aus der Neu-Übersetzung von Frank Günther: Shakespeares Hamlet. Serie Piper 3366, München, 2001.

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