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Große Dramen

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Der Zufall will es, daß Wien an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit zwei großen Dramen bekannt wird, sehr verschieden in ihrer Art; was sie verbindet, ist nicht zuletzt das Mißverstehen, dem sie beide ausgesetzt sind. Das Burgtheater bringt nach der Aufführung bei den Bregenzer Festspielen (über die bereits in der „Furche“ berichtet wurde) Reinhold Schneiders Tragödie „Der große Verzicht“, die Josef Stadt bringt Luigi Pirandellos Tragödie „Hein-rich IV.“

Der „Große Verzicht“ spielt, wie bekannt, um das Jahr 1294, „Heinrich IV.“ in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg. Der Eindruck dieser beiden Dramen auf das Publikum zeigt, wie unbeholfen, wie verbündet, gerade durch die vielen Bilder unserer Zeit, unsere Zeitgenossen sind. Angestrengt starren sie auf die Bühne, suchen das „historische“ Geschehen zu enträtseln, hier um den Engeispäpst Petrus Cöle-stin V.. dort um den italienischen Adeligen, def seinen betrügerischen Genossen „Heinrich IV.“ vorspielt, und merken gar nicht, daß es nur auf eines ankommt in beiden Dramen: rein, unverbildet Gegenwart wahrzunehmen. Lebensfragen des Menschen im Heute, Grundfragen seiner Beziehung zu sich selbst, zum Nächsten, zu Gott, zu aller Wirklichkeit und Unwirklickeit, die er selbst sich schafft.

“In der Burg wird der Zuschauer allerdings in besonderer Weise unwissentlich verführt. Reinhold Schneiders Vision vom Zusammenprall des Menschen mit der Macht und der Ohnmacht, dem Kreuz und dem Verbrechen wird hier als ein historisierendes Geschichtsdrama zelebriert; mit wunderschönen Bildern von Theo Otto, die allein eine Verführungskraft sondergleichen haben, undin einer Regie (Gielen}, die das „Geschichtliche“ unterstreicht, obwohl der Dichter dem 1950 erschienenen Werk warnend ein Wort Grabbes an Menzel von 1836 voransetzt: „Übrigens ist auch das Drama nicht an die Bretter gebunden — der geniale Schauspieler wirkt durch etwas anderes als der Dichter, und das rechte Theater des Dichters ist doch — die, Phintasie des Lesers“. — Eben diese Phantasie des Zuschauers wird hier verführt; er sieht, interessiert, bisweilen auch ergriffen, auf ein historisches Schaustück; wie da der Einsiedler Petrus von Murrhone, zum Papst gewählt, der bösen Welt erliegt, ein Lamm geworfen unter die Wölfe. Und wie dann Kardinal Benedetto Gaetani die Macht an sich reißt, und als Papst Boni-faz VIII. in Zorn und Herrentum sich überhebt; wobei ihm als Artgenossen ebenso machtbesessene und ebenso hochgemut-hochmütige Könige assistieren. Eine asketisch-radikal auf alle diese historisierenden

Bilder verzichtende Aufführung hätte in harter, spiritueller Licht- und Linienführung ein Drama aufgezeigt, daß dem Zuschauer kalt und heiß geworden wäre, im kalt-heißen Kriegsklima unserer Tage: den schweren inneren Konflikt des Papsttums heute, einer Kurie, die den Atomwaffen widerspricht, in Wort und Gesinnung, und doch, aus tausend wohlverständlichen politischen und kirchenpolitisehen Gründen ihren Freunden das Atomschwert nicht aus den Händen winden will, weil es ja auch der große Gegner trägt. Das wäre hier zu zeigen gewesen, und nur dies. Alles andere ist Abweg vom Übel.

Trotz allein: Ewald Baiser ist ein ergreifender Engelspapst, Ernst Deutsch als Bonifaz VIII. eine mächtige Erscheinung, der man den Würgegriff nach der totalen Macht glaubt; Heinz Wöster als lahmer König Karl von Anjou verkörpert gut das Hinterhältige, das so vielen Fürsten des Mittelalters und der Shakespeare-Zeit eigen ist. Die resolut zusammengestrichene Aufführung hätte es an sich, vom Text her, nicht allzu schwer gehabt, die Essenz der Tragödie herauszuarbeiten, da sie das zweite Drama im Drama, die Königstragödie um die letzten Staufen und das Erbe des Reiches, unter den Tisch fallen läßt.

Die Aufführung von Pirandellos „Heinrich IV.“ lebt von Leopold Rudolf. Großartig, dieser Hamlet unserer Zeit! In einer vornehmen italienischen Nachkriegsgesellschaft, die sich selbst durch allerlei Schauspielereien betrügt, unterhält, amüsiert und weiter zugrunde richtet, entschließt sich ein jüngerer Mann, i dem eines dieser Spiele zunächstübel bekommt — ein Sturz vom Pferde bei einem Maskenzug hat ein längeres Irresein zur Folge —, nach seinem Erwachen das Spiel in der Maske fortzusetzen, um sich restlos klar zu werden über sich selbst und über das Gesellschaftsspiel um ihn herum. Wobei faszinierend, erschütterungsmächtig offenbar wird: sein „Narrenspiel“ hat mehr Wahrheit als das klug-hinterhältige Spiel seiner Standesgenossen um ihn herum. Die Kluft zwischen diesem neuen Hamlet, der am Mord des Menschen durch die Lüge und die Konvention leidet, und seinen Zeitgenossen ist so groß, daß nur der Tod und die völlige Trennung sie, wie im „Hamlet“ Shakespeares, überwinden kann. Tragödie vom ersten Moment des ersten Auftritts bis zum letzten Blick auf die Bühne ist dieses große Drama des hintersinnigen Nobelpreisträgers, der die Spaltung der Zeit in der Spaltung des Bewußtseins, des Wissens und Gewissens darstellt. Neben Leopold Rudolf behauptet sich nur Sigrid Marquardt — und das Bühnenbild von Lois Egg.

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