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Europäisches Theater

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Die heurige Wiener Spielzeit ist im erster Linie durch das Verlangen bestimmt, jene Früchte zu kosten, die während der sieben mageren Geistesjahre verboten waren. Auch will man wissen, ob sie wirklich so süß schmecken, wie das Verbotene dem Sprichwort nach nun einmal z schmecken pflegt. Der derzeitige Zustand des Wiener Theaters ist noch immer das „Kosten“. Das ist gut so und soll so sein. Dieses Kosten besteht aber in Wahrheit in einer Riesenarbeit, die die Wiener Bühnen heuer geleistet haben, mit der sie gleichzeitig eine gar nicht hoch genug anzuschlagende Funktion im Wiederaufbau eines geistigen Europa erfüllen. Wo soll unser europäischer Kontakt trotz der Demarkationslinien herkommen, wenn nicht durch das Theater, da ja Bücher so gut wie nicht zu haben sind? In diesem Sinne ist das Wiener Theater von heute eine wahrhaft moralische Anstalt, was es ja bekanntlich immer nor mit der einen Hälfte seines Wesens sein kann. Darüber hinaus aber scheint das Theater von beute etne Schule zar geistigen Kühnheit, zum Wagemut, zum geistigen Klettern zu sein. Das müssen beute viele im Geistigen erst wieder lernen. Diese schier ausgestorbene Kunst der geistigen Bergbesteigung, des Verlangens nach Höhenluft des Geistes, das soll der Theaterbesucher von heute aus der europäischen Theaterkonst wieder als Gewinn davontragen.

Dazu bot Pirandellos „M an weiß nicht wie“ in der Insel reichlieh Gelegenheit. Das Werk sucht seinesgleichen an Fanatismus in der Erhellung hintergründigster Seelenvorgänge. Das wahre Lehe, das ist das, von dem man nicht weiß, wie.. Wahrhaft lebt mir der, der che seelische Schichten kennt, in denen jede Regung schon Übertretung eines Gesetzes, ja Verbrechen ist. Aber ein solches Wissen schreit nach dem Richter. Solche Existenzaufhellung ist an sich schon Urfrevel der Menschheit, ist Entschleierung des Bildes von Sais, ist Verrat an den Mysterien des Menschen. Da liegen die Wurzeln der Tragödie Oberhaupt bloß.

Damit stoßt Firandetlo bis an die äußersten Grenzen des Mitteilbaren vor. Seltsam, welch eisige Kühle das Werk ausströmt. Man merkt eben, daß die Götter der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, wie Pirandello, auch nicht gerade jünger geworden sind. Das gibt immer ein Frösteln und Unbehagen, wenn man den eigenen Idolen und Götzen begegnet und erkennen muß, daß sie ihre Faszination eingebüßt haben. Aber sind wir froh* daß wir Leon Epp und seine Insel haben. So etwas hat Wien schon lange gefehlt.

Eine ähnliche Schule zur moralischen Kletterei stellt auch J. B. Priestleys „G e-fährliche Wahrheit“ im Volkstheater dar. Das „Spiel“ ist in der auf Enthüllung verborgener Vergangenheit abzielenden analytischen Technik geschrieben. Man kennt das vom „König Oedipus“ und von den „Gespenstern“ her. Schön. Aber wer ist es, der enthüllt? Wer hebt den Vorhang? Bei Sophokles das Schicksal, bei Ibsen die Gespenster, ein modernes Schicksal. Daraus läßt sieh leidit ersehen, daß die Hauptsache im analytischen Drama eine anonyme Kraft ist, die schließlich alle so in die Enge treibt, daß der Urfrevel an den Tag kommt. Gerade diese anonyme Kraft aber ist die schwadie Seite bei Priestley. Ich sage nidit, daß sie nicht da ist. Aber sie ist unendlich zahm geworden. Durch Salonkonversatioa kommt schließlich die Tatsadie zum Vorschein, daß ein Jemand (die Persönlidikeit ist uninteressant) einen anderen Jemand (dessen Persönlichkeit nodi uninteressanter ist) umgebracht hat. Aber dieser Salon ist kein Tribunal. Statt Ähnung der ,Mcht“ gibt Priestlev intellektuelle Spannung, Erregung der Neugierde. Damit befinden wir uns mitten im Wesen des Krirpinalstüdses. Und damit gleichzeitig außerhalb der Sphäre des Dichterisdien. Mit einer an sidi tief ernsten Frage (nach der des Gewissens) wird auf die naive Lustcmpfindting der intellektuellen Spannung spekuliert. Das ist aber nicht anderes als eine Abart des Frivolen “m der Kunst. t

Mldiel Durans „Bolero“ im V n ] k • t h e a t e r ist ein lustiges dramatisches Pamphlet gegen die moderne Ardiirektur, derzufolge ein Architekt innerhalb seiner eigenen vom ihm selbst erbauten i vier dünnen Wände zuerst ein, Opfer der Landplage, schließlich aber einer Schönen wird, die auf komplizierte Weis mit diesem zimnieriautstärkcwidrigen Bolero-Grammophon-Lärm zusammenhängt. Recht geschieht ihm. Man kann das alles so gut nachemp* finden: den Heidenlärm, den wackelnden Luster der Wohnung der Schönen. — Auf eins, zwei sieht man sidi in diese Komödie geradezu verwickelt, man ist amüsiert, man lächelt (und das ist m-:)ir als Lachen). Dabei fehlt es dem ganzen Stück keineswegs an Gucklödiern ins „rein Menschliche“. Das Köstlichste für Feinschmecker sind die ständig ineinander überfließenden Grenzen von Ernst und Scherz innerhalb des Spielas. Ohne daß das besonders ernst gemeint ist, gewährt es doch Vergnügen.

Das Burgrheater brachte Fr. Th. Czokors „K a 1 y p s o“ in einer gepflegten Aufführung zu Gehör. Kalypso, das ist das dramatisdie Gedicht (ohne große Pause) deis österreidtisdien Ody.sseus. Das Gedidit jener vielen, die ohne Ffeimat waren oder es noch sind. Das Gedicht der Heimatlosen. Aber auch das Gedicht von der Treue zur Heimat. Kalypso vermag den Irrenden nicht zu halten. Er will in seine Heimat — um jeden Preis. Czokor gibt der Gestalt des Heimatlosen zweierlei Form: die des Ody*-seus selbst und die des blinden Sängers. Erst als Odysseus die Erlaubnis der Götter erhält heimzukehren, vermag der blinde Sänger jaj singen. Dies scheint mir eine der schönsten nnd tiefsinnigsten Stellen des Werkes an sein. Aslan spricht den Ausklang (schöne röhrende Verse — mit der ganzen Brnnnei-tiefe, deren nur diese eine Stimme fähig ist), in dem der aktuelle Bezug, tieftratiriger Bezug, noch einmal zusammengefaßt ist. Leider ist dieses dramatische Gedicht aar ein succes d'estim geworden.

Ina Redoatensaal spick das Burgrheater Molicres „M isanthrop“ als ein Zeitstück oder eigentlich als ein Stick, das bloß so gespielt zu werden braucht, wie es geschrieben wurde, am heute wieder Zeitstück zu sein. Was denn wäre aktueller als das Schicksal eines Oberzeugungstreuen? Eines Menschen, der sich mit aller Welt überwirft, ja Verfolgung dulden muß, weil ihm die Welt zur Metze wird, zur Larve, zur käuflichen Fratze. Er, der Misanthrop, bleibt sich selber treu. Das ist zwar noch Moliere, das ist aber auch schon wie eine Vorahnung Ibsens. Zwar ist die Diktion Molares heute schon recht „historisch“ geworden. Die Anspielungen, die den Zeitgenossen des Dichters aktuell in den Ohren klangen, sind es uns nicht mehr. Komödie ist eben doch viel stärker zeitgebunden als das hohe Drama. So mag es denn kommen, daß in dieser „Komödie“ auch nicht ein einziges Mal ein Lachen durch das Haus geht. Und war doch vieles als lachenerregend gemeint.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Wien wieder Kontakt mit dem geistigen Ausland bekommt. Wollen wir hoffen, 8aß der mit dem geistigen Inland nicht allzulange auf sich warten läßt. Wie gesagt, der Appetit ist groß, die Arbeitskraft der Wiener Theater ist enorm (die Preise sind es ebenfalls) und die uns neugeschenkte Freiheit bietet die Voraussetzung einer neuen österreichischen dramatischen Kunst. Möge aus dem Kontakt mit dem europäischen Theater auch die österreichische Bühnenkunst neue Kraft schöpfen. Denn eins ist gewiß — Europa ist eine geistige Einheit. Dies wieder zu erkennen und neu zu beweisen ist unsere dringendste Pflicht auf dem Theater.

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