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Ist Hamlets Natur eine Hamlet-Natur?

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Eine Frage birgt dieser Titel, die nicht nur das geflügelte Wort von der Hamlet-Natur, wie es seit Goethe kursierte, entschleußt, sondern auch einen Ozean Literatur über diese Bezeichnung; und nicht zuletzt die Erinnerung an eine Reihe von Schauspielern, die die Welt durchstrahlten oder, wenn sie es anders hielten, empörten — Moissi und Gründgens steigen darin auf als die uns in ihrer Gegensätzlichkeit geläufigsten, obgleich ein dritter, Bas- sermann, als Dänenkronprinz weniger bekannt geworden vielleicht der größte unter ihnen war. Und der Titel eines Buches gesellt sich dazu, das knapp vor dem letzten Krieg in Bologna erschien und bald über Landes- und Sprachgrenzen bekannt wurde. Der heute schon verewigte Verfasser, Alfredo Frassati, stammte aus Turin, dieser dem französischen Geist nahestehenden Wiege des Risorgimento. Er betitelte sein Buch programmatisch: „La volontä in Amleto.”

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Eine Frage birgt dieser Titel, die nicht nur das geflügelte Wort von der Hamlet-Natur, wie es seit Goethe kursierte, entschleußt, sondern auch einen Ozean Literatur über diese Bezeichnung; und nicht zuletzt die Erinnerung an eine Reihe von Schauspielern, die die Welt durchstrahlten oder, wenn sie es anders hielten, empörten — Moissi und Gründgens steigen darin auf als die uns in ihrer Gegensätzlichkeit geläufigsten, obgleich ein dritter, Bas- sermann, als Dänenkronprinz weniger bekannt geworden vielleicht der größte unter ihnen war. Und der Titel eines Buches gesellt sich dazu, das knapp vor dem letzten Krieg in Bologna erschien und bald über Landes- und Sprachgrenzen bekannt wurde. Der heute schon verewigte Verfasser, Alfredo Frassati, stammte aus Turin, dieser dem französischen Geist nahestehenden Wiege des Risorgimento. Er betitelte sein Buch programmatisch: „La volontä in Amleto.”

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Bewußt habe er, Frassati, die Tragödie Hamlets eine Tragödie des Willens genannt — so eröffnet er seine Betrachtung, die auch heute, noch nichts an zwingender Faszination verlor. Eine Tragödie des Willens — ja! Der feste Vorsatz einer Seele äußert sich darin, zu handeln, und zu diesem Handeln setzt ein heroisches Bemühen ein, das Ziel, dem es sich weihte, zu erreichen.

Hamlet ist für Frassati kein Träumer oder Grübler, sondern der nach einem bis ins Letzte durchdachten Vorsatz handelnde „höchst königliche” Rächer seines Vaters. Er nimmt sich die Erzählung des toten Vaters zur Mission, der er sein eigenes Leben unterordnet, nicht seiner selbst halber, sondern für die Allgemeinheit. Mit Hamlets Worten wird beteuert: „Wäre es nicht verdammenswert, ließen wir diesen Krebs an unserem Fleische fressen?” und Zug um Zug, solchen wegweiserischen Zitaten nach, die Frassati aus dem Werke schöpft, begleiten wir den so ganz neu gesehenen Hamlet.

Schon ehe Hamlet die Sizene betritt, widerlegt sein Dichter die Auffassung vom grüblerisch-untätigen prinzlichen Schwächling und Träumer. „Vertrauen wir, was wir in dieser Nacht gesehen, dem jungen Hamlet!” rät nach dem Geisterspuk Horatio. Nicht dem neuen König soll man berichten, was sich in dem Schloß begab, darin er eben Hochzeit feiert mit der Witwe seines Bruders — nein, Hamlet ruft man und ihm leistet man nach der Mitteilung des Gespenstes den Eid des Schweigens, als wäre er ihr Herr und noch nicht jener.

Überzeugt aber diese Erscheinung, die nach Vergeltung rief, den Prinzen? Gewiß, wäre er der impulsive Stimmungsmensch, als den man ihn bisher einzuschätzen liebte. Doch Hamlet scheint dafür Frassati — wie am Schluß auch Fortinlbras — eine ethisch zu tief verankerte Figur, in der schon der Keim zum künftigen Herrscher schlummert. Solch einem Hamlet genügt weder das eigene „prophetische Gemüt”, noch glaubt er kritiklos der Aussage eines Phantoms, das ein Höllenspuk sein könnte. Hamlet braucht einen Beweis der Schuld, den ihm der ihrer Verdächtigte selbst erbringen soll. Und so erdenkt er einen Plan, der unbarmherzig gegen sich und die ihm Nächsten, über die Mutter und über die Geliebte hinweg verfolgt wird; der seinen Ohm Claudius, den frisch gekrönten Mörder vor aller Öffentlichkeit überführen und richten soll.

Dieser Hamlet eines rücksichtslosen Planes, der sich vorher in einem wie für die Ewigkeit gedachten Monologe prüft, zeigt sich uns jetzt nicht mehr als melancholischer Fürst eines nebligen Baladenlandes, sondern vielmehr ais ein „principe” des Machiavelli in seiner Einheit von Geist und Tat — kurz als der ausgesprochene Mann der Renaissance, des Mittelmeers. Um diesen Plan ist er bereit, sich zu verstellen wie ein

Cesare Borgia, um seinetwillen nimmt er die Masken der Lieblosigkeit und des Wahnsinns vor sein Menschengesicht, das sich darunter birgt, von ihm verleugnet. Es ist die Kluft des Quattrocento der Tyrannen, der Condottiere, die hier nicht nur Hamlet atmet. Denn Vater, Ohm und Mutter dieses Prinzen, der im humanistischen Wittenberg studiert hat, sind leidenschaftliche, .gewalttätige und einander hörige Naturen. An dem alten Hamlet, dem Ermordeten, klebt Schuld, die er am Vater des Fortinbras verübte. Die Hochzeit des Thronräubers Claudius (Thronräuber, weil doch Hamlet die Erbfolge gebührt hätte!) mit seines Bruders Weib über dessen noch frischem Grab hätte selbst ohne das Verbrechen, das ihr voranging, etwas von der wilden Willkür eines Mala- testa oder eines Colleoni. Und Hamlet auf der Jagd nach seinem Ziele spürt ebenso den Einsatz, den es erfordert, und darum fällt als erstes Opfer durch ihn der Mensch, den er am tiefsten liebt, seit er die Mutter um ihrer raschen neuen Ehe willen aus seinem Herzen tilgen mußte — fällt Ophelia — durch ihn!

Weshalb eröffnet er sich aber nicht einfach der Geliebten? Gerade daß er schweigt — so sieht es auch mit vollem Recht Frassati — beweist ja erst, wie qualvoll klar er sich nun über seine Pflicht in einem Leben wurde, darin nichts Privates mehr verbleiben darf. Er kann sich der Geliebten nicht erkennen, die er im Banne seines Ohms und ihres Vaters, des geschwätzigen Polonius weiß, er würde ihr im Überschwange verströmenden Gefühls sein Vorhaben verraten; und damit an jemanden verraten, der sein Geheimnis nicht zu wahren wüßte — so wie er zu spät am Grabe der Geliebten jenes Gefühl vor aller Welt bekennen wird. Und darum jetzt der jammervolle Seufzer und der irre Blick, mit der er sie betrachtet, um dann von ihr zu scheiden. Ein innerliches Losreißen ist es, das Ophelia ahnungslos dem Vater Polonius berichtet, der wieder mißverstehend das für Liebe hält, was stöhnender Verzicht eines hart gewordenen Mannes auf das ihm Teuerste um seiner Aufgabe willen wurde.

Was Hamlet später noch zu Ophelia mit seinem Rat, sie möge ins Kloster gehen, ausgedrückt, das ist schon ein anderer Hamlet, der bewußt den Narren spielt, um eine Untat aufzudecken: „Man kommt zum Spiele”, sagt er, „ich muß albern tun!” Befreundet man sich erst mit dieser

Auffassung, wie scharf, wie überraschend entwickelt sich dann ein solcher Hamlet, wie wächst er an der Sendung, die er übernimmt! Der schon erwähnte Monolog nach der Begegnung mit den Komödianten, die er als Mittel für seinen Zweck verwenden will, wind in der eisklaren Konzentration eines Intellektuellen gesprochen, der alle Gründe abtastet, die seine Tat zu hindern vermöchten, um eben durch solche klinische Bewußtmachung jene Gründe zu entkräften. Und das, nachdem die vorangegangene Meditation über das Wesen des Komödianten („Was ist ihm Hekuba?”) in Hamlet die Idee zur „Mausefalle” gebar, nämlich mit einer szenischen Rekonstruktion des verübten Verbrechens den Übeltäter durch einen Schock zu überführen.

Nun wird logisch, was bisher so schwer verständlich blieb, daß nämlich Hamlet so rasch in die Fahrt nach England willigt, deren geheime Absicht, seine Ermordung, er nur durchkreuzen kann, wenn er sich scheinbar darein fügt. Seit dem Gelingen seiner „Mausefalle” gewann er ja die Überzeugung von der Schuld des königlichen Paares. Aber wo fände seine Klage Widerhall? Nichts weiter ahnen Hof und Volk — Horatios Kreis ausgenommen—, als daß der König über ein allzu rohes Stegreifstück verstimmt war. Hamlet will anderseits keine private Rache nehmen, zu der sich ihm schon Gelegenheit geboten hätte, als er den von seinem Gewissen bedrängten Ohm heimlich belauschte — Hamlet will Gericht!

Doch indessen wird die von ihm deshalb aus seinem Herzen verbannte Ophelia durch seine Schuld eine Beute des Wahnsinns und des Todes. Hamlet, der Heimgekehrte, sieht sich nun — geniale dramatische Kontrapunktik des Dichters! — mit der jähen Rückkunft des Laertes jenem gegenüber in dieselbe Lage versetzt, um derentwillen er den Ohm, der ihm den Vater mordete, nach dem Leben trachtet: Nun hat ein anderer Sohn — Laertes — an Hamlet des Vaters Tod zu rächen, des Polonius Tod; und nicht nur das, auch noch den Selbstmord der Ophelia, des Laertes Schwester. „Das Gegenbild der meinen muß ich sehen — in seiner Sache!” bekennt Hamlet.

Darin aber wurzelt Hamlets Todsünde, eine weit größere als die „an des Gedankens Blässe” gescheiterte Tat einer früheren Auffassung. Zur Durchsetzung seines Planes mußte Hamlet sehenden Auges Unschuldige opfern. So soll auch ihm über die vollzogene Vergeltung hinweg nichts bleiben dürfen, als das eigene Ende. Und nur Horatio, in allem sein Vertrautester, soll — das ist Hamlets letzter Wille — zur Aufhellung des Geschehenen dem einmarschierenden Fortinbras (dem „starken Arm” — forte braccio), den Hamlet zum Herrscher über das verwaiste Volk wünscht, die Deutung geben. So stirbt dieser Hamlet, wie er lebte: bedacht und klar bis zum letzten Atemzug.

Wahrlich — eine überaus lateinische, ja fast antikische Auffassung, die den Hamlet in die Nähe des Orestes rückt. Nun war dazu Shakespeare auch noch der halbe Zeitgenosse einer Tat, die ihn wie damals ganz Europa gewiß stark bewegte: die Ermordung des Herzogs Alessandro di Medici durch seinen Vetter Lorenzino, den der Florentiner Hof verächtlich „Lorenzaccio” schmähte. Denn dieser Hamlet des Südens, ein Humanist und brennender Verehrer der Antike, hatte seiner Vaterstadt am Arno die verlorene Freiheit wiederbringen wollen, und jenem jahrelang gehegten Traum zuliebe mimte er vor dem Herrscher und ganz Florenz einen Narren und Kuppler, bloß um seinen Brutus- plan wider die verbrecherische Tyrannei des Vetters durchzuführen. Auch er hatte seine ganze Kraft darin erschöpft und kam über den geglückten Mord nicht mehr hinaus. Nicht einmal die kurze Freiheit, die er Florenz damit schuf, blieb von Bestand. Und meines Wissens hat noch keine Hamlet-Forschung sich darnach gefragt, ob neben den bereits bekannten Hamlet-Quellen auch jenes hier von mir berichtete Ereignis, das Alfred de Musset zu einem Meisterstück der französischen Romantik begeisterte auf Shakespeare Einfluß nahm.

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