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Gewissensbisse

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Eine helle, eiskalte Mondnacht. Alexej Iwa-nitsch Romansow tastete sich wankend und strauchelnd der Mauer entlang, bis er die kleine Pforte erreicht hatte. Hier stand er eine Weile still und lehnte sich gegen die Wand. Dann holte er den Schlüssel aus der Tasche seines Pelzmantels. Als er' die Tür aufstieß und aus der Dunkelheit in den Irmenhof trat, blendete ihn der kalte Mond. „Zu Hause!“ Er sprach das Wort nicht aus; aber es geisterte durch seinen wirren Kopf. Benebelt dachte er: , Ich muß mich zusammennehmen. Anjuschka darf nicht wissen, daß ich irgendwo war ... So ist es also im Leben! Mensch ... !“ philosophierte er, vorsichtig die Jauche umgehend und stolperte. „Es gibt Illusionen, Fata Morgana, Größenwahn, Rausch. Man bläst nur einmal darüber hinweg, und fort ist alles.“

Rrrr ... vernahm er Hundeknurren. Romansow blickte sich um. Nur zwei Schritte vor ihm gewahrte er den mächtigen, dunklen Köter aus der Rasse der Schäferhunde, in der Größe eines guten Wolfes. Der Hund saß bei seiner Hütte und rasselte mit der Kette. Romansow blickte ihn an, schüttelte den Kopf und lächelte trübe. „Draußen, in dieser Hundekälte, Hamlet?“

Rrrr... wiederholte der Hund und blieb ruhig sitzen.

„Hm... ich verstehe. Auch du kannst bös sein, wenn dir ein Mensch nicht gefällt. Aber wem gefalle ich überhaupt? Trotzdem lasse ich mich von dir nicht anbellen, lieber Freund. Weißt du nicht, daß der Mensch die Krone der Welt ist? Gott erschlage mich, wenn ich nicht etwas Grandioses bin! Schau, ich komme ganz nahe zu dir. . . sieh mich an, Bruder! Wie meinst du, bin ich ein Mensch oder nicht? Erklär dich, Brüderchen!“

Rrrr...

„Pfötchen her, du Großschnauze“,' sagte der Mensch und reichte dem Tier die Hand. „Sie wünschen nicht? Gut, dann nicht! Nitschewo . . . Erlauben Sie, daß ich Ihnen in die Fresse spucke... so aus Freundschaft, Hamlet!“

Rrrr...

„Aaah beißen? Sehr gut Daran werden wir

denken. Du pfeifst also auf den Menschen, du glaubst nicht, daß der Mensch die Krone ist? Würdest du auch Pawel Nikolajewitsch anbellen und beißen, unseren hohen Vorgesetzten, vor dem sich alle bis zum Boden neigen? Dir' ist wohl nichts heilig, du Rindvieh. Laß meine Hand los, Räuber! Sie blutet schon.“ Rrrr. ..

„Halt, beiße nicht, Hamlet! Ich bin dein Herr, ich gebe dir zu Fressen, lasse dir frisches Heu in deine Bude bringen, was willst du noch? Aber ich wollte etwas sagen... Ach ja! Was den Pawel, unseren Chef betrifft! Ein hoher Herr; eine Persönlichkeit. Und doch — nur ein Windhauch, und er ist nicht mehr da . . . Na, für was also lebt der Mensch, frag ich mich überhaupt? Für was schuftet, betrügt und verachtet er seine Nächsten? Wir kommen alle in Schmerzen der Mütter zur Welt, wir essen, trinken, gehen die Schule durch; wir beten oder wir fluchen. Meistens fluchen wir, und dann ist der Tod da. Wir fluchen noch, während er uns schon mit seiner kalten Hand den Mund schließt. .. Und für was das alles? Der Mensch ist... Nitschewo!“ Romansow schüttelt den Kopf und spuckte aus. .Du glaubst, daß ich — Romansow, Sekretär des College, König der Natur bin ... ? Daneben gedacht, Brüderchen! Ich bin nur ein Schmarotzer, bestechlich; ein Heuchler bin ich, ein Reptil!“ Der „König der Natur“ schlug sich mit der Faust auf die Brust und schluchzte auf.

„Du Sklave, du Bullenbeißer! Du glaubst nicht, daß Jegor Kopschunin meinetwegen entlassen wurde und ich auf seinen guten Posten erhoben bin, weil ich gegen ihn intrigiert habe? Und wer, erlauben Sie, daß ich frage, hat die zweihundert Rubel aus der Komiteekasse entwendet und den Verdacht auf den unschuldigen Kassier Suprugow abgewälzt? War ich es vielleicht nicht, ich, der das getan hat? Ein Reptil, Judas und ein Schuft bin ich!“ Romansow wischte sich die Tränen und schluchzte von neuem auf. „Beiße nur, friß mein Fleisch! So .., Niemand in meinem ganzen Leben hat mir ein gutes, ehrliches Wort gesagt. Alle spucken mir nach und nennen mich im stillen einen Lumpen. Nicht einmal eine Ohrfeige wagen sie mir zu verabreichen, die Feiglinge! Nur Schmeicheleien und Judaslächeln!“

Rrrr...

„Iß, Hamlet, genier dich nicht. Freundchen! Es tut mir weh, das stimmt. Nitschewo... Reiß mein Fleisch auf, verschling es, Hund. Friß den Verräter.“ Romansow taumelte und fiel auf den Hund.

Rrrrrr ...

„So, nur weiter. BriHerchen! Reiß ab, was du kannst! Hier, die zweite Hand! Niemandem tut es weh, mir auch nicht. Aha! Jetzt bluten beide Hände. Macht- nichts. Verdient if!: ver dient. Danke schön, Hamlet! Vielen Dank! Reiß auch den Pelz entzwei. Er ist sehr kostbar, und ist sowieso ein Bestechungspelz... Ich verriet den Nächsten und kaufte mir für das Geld dieses Gewand, ich Judas . . . Und da hängt einer auf dem Kalvarienberg und sagt: ,Ich vergebe euch .. .' Hier, reiß die H-nit, trink mein Blut, o Hamlet, Brüderchen .. . !“

Rrrr...

„Nun, jetzt muß .ich gehen. Anjuschka, weißt du, wird besorgt sein. Na., danke schön, schlaf gut, Hamlet. Lebwohl, Hundelein, du Schelm!“

Romansow streichelte den Hund über den Rücken, gab ihm noch ein letztes Mal die Hand zum Beißen. Dann trottete er taumelnd zur Tür seiner Wohnung.

„Heute ist Silvester“, murmelte er. „Bin ein bißchen berauscht, nitschewo . .. Morgen ist auch ein Tag: und dazu ein Tag im neuen Jahr ... Fixer Köter, dieser Hamlet. Guter Hund.. .“

Am nächsten Tag wachte er auf. Es war schon Mittag. Er stutzte beim Anblick seiner Frau, die verweint und verängstigt neben seinem Bett stand. Daneben hockte der Arzt mit besorgter Miene. Aber was ihn noch mehr verblüffte, waren seine beiden Hände, die in Tüchern steckten und höllisch brannten. Auch sein Gesicht war völlig mit Pflastern bedeckt.

„Ein gutes neues Jahr, Alexej Iwanitsch“. grinste der Arzt.

„Es ist Hamlet, der dich so zugerichtet hat. Alexej! Wahrscheinlich bist du zu nahe an seine Hütte gekommen. Und er kennt dich noch nicht so gut. Oh, das tut wohl sehr weh?“ schluchzte sie.

„Erschießt das Vieh!“ rief der College-Sekretär. „Dort, im Schreibzimmer hängt die Flinte. Aber rasch, sag ich!“

„Ich mach's“, erklärte sich der Arzt bereit, eifrig dem Dienste ergeben ..Eine Sekunde und - aus ist's“, grinste er, schon bei der Tür.

„Ha. Was? Hier geblieben. Herr Medikus! Ist nicht Ihre Sache . . . Anjuschka, bring Harn let ein gutes Stück Geselchtes und eine Schüssel voll Milch. Und daß mir keiner den Hund anrührt, verstanden?“

Aus dem Russischen übertragen von Irene v, Bischoffshausen

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