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Irrtum des Herrgotts

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Es war ums Jahr 1895 -also vor rund hundert Jahren - in einer kleinen verschlafenen Grenzstadt am Inn. Ein Kutscher, der wohl bei der langen Fahrt aus dem Salzburgischen hin zu dieser Stadt schon mehrmals in den Wirtshäusern am Straßenrand eingekehrt war um den Staub, der damals besonders in den trockenen Sommermonaten die Reisenden gehörig plagte, mit kräftigen Schlucken hinunterzuspülen, näherte sich mit seinem Gespann und einer Fuhre Langholz dem gedrungenem Stadtturm.

Die Pferde wußten aus Erfahrung und oft geübtem Brauch, daß die strapaziöse Tour am Ufer des Flusses ihr Ende haben würde. Von dort sollten die Stämme am Inn hinab nach Passau verbracht werden.

Die zwei Braunen fielen in schnellere Gangart und passierten den Stadtturm, nahmen noch mehr Geschwindigkeit auf, denn die

Straße - hinter dem Turmtor geweitet zum schönen Stadtplatz - neigt sich hinunter zum Fluß.

Dem Kutscher war das Tempo recht, ihn quälte schon wieder der Durst. Das Gespann wurde nochmals schneller, die Pferde verfielen jetzt in Trab. Und dann geschah es: Hinter einem springenden Filzball tollte ein kleiner Bub über den Platz, achtete nicht der nahenden Pferde, rannte zwischen das Gespann immer dem Bällchen nach.

Die Pferde scheuten, der Kutscher schrie ... das Kind lag mit geschlossenen Augen und einem Blutfaden im jungen Gesicht, der aus der Nase sickerte, zwischen den mächtigen Hufen der Kaltblüter. Die traten auf schwerem Eisen unruhig hin und her, berührten aber wie durch ein Wunder das reglos liegende Kind nicht um ein Haar.

Der Kutscher, plötzlich stocknüchtern, kurbelte wie verrückt an der Bremse und fixierte die Fuhre.

Leute liefen zusammen, einer holte die Mutter des Buben. Als die sich weinend über ihn warf, man hatte

ihn aus der Gefahr geborgen und am nahen Brunnenrand niedergelegt, schlug das Kind schon wieder die schönen blauen Augen auf, sah seine Mutter über sich ... und lächelte.

Der Blutfaden war geronnen; die Frau, noch zitternd und wie von Sinnen, säuberte am Brunnen das schmale Gesichtchen des Knaben. Der Kutscher machte, daß er mit seinem Gespann weiterkam. Ein paar Frauen trösteten die schreckensbleiche Mutter, deren Kind um ein Haar von dem Gespann überrollt oder doch von den Pferden hätte leicht totgetrampelt werden können.

Nichts Ernstes war passiert. Ein Wunder war geschehen. Sogar das Bällchen war heilgeblieben.

„Habens aber Segen und Glück ghabt, daß der Bub noch lebt; hat sich nur an der Deichsl das Kopferl gschlagn!”, sagte eine der Frauen teilnehmend zur Mutter. Und eine andere: „Da hat der Herrgott ein Wunder getan!” Und dann noch, schon im Weggehen: „Solltens eigentlich in der Stadtpfarrkirch eine Kerzen stiften, Frau Hitler!”

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