Komplizen - © Foto: Marcella Ruiz Cruz

Maxim Gorki im Wien der Gegenwart: Hurra, wir leben noch!

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In „Komplizen" zaubert Simone Stone aus Gorkis „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ – beides düstere Vorahnungen künftiger Katastrophen der russischen Gesellschaft um 1900 – ein neu zusammengesetztes Stück im Wien der Gegenwart.

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In „Komplizen" zaubert Simone Stone aus Gorkis „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ – beides düstere Vorahnungen künftiger Katastrophen der russischen Gesellschaft um 1900 – ein neu zusammengesetztes Stück im Wien der Gegenwart.

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Der Theaterenthusiast Simon Stone hat sich viel vorgenommen für diesen Abend im Wiener Burgtheater. Der vielfach ausgezeichnete Regisseur vermischt gleich zwei Dramen von Maxim Gorki zu einem Stück, versammelt alles an Schauspielgrößen, was das Haus zu bieten hat, lässt von Bob Cousins eine beeindruckende Bühnenlandschaft aus Glas erschaffen und macht aus all dem eine so unterhaltsame wie weitsichtige Theaterposse. Aus Gorkis „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ – beides düstere Vorahnungen künftiger Katastrophen und Sittenbilder der russischen Gesellschaft um 1900 – entnimmt Stone die dramaturgischen Strukturen sowie einen Großteil der Figuren und versetzt die Szenerie ins Wien der Gegenwart.

Eine gläserne Wohnlandschaft mitten in Döbling steht im Zentrum des Geschehens. Hier wohnt der lebensferne Forscher Paul, gespielt von Michael Maertens. Noch verkatert vom Vorabend wird er von der Haushälterin (Annamária Láng) zurechtgewiesen. Auch seine Frau hält nicht allzu viel von ihm, außer der Vorliebe für Chardonnay verbindet die beiden wenig. Um sie herum schwirrt eine Vielzahl von Menschen, wie der reiche Onkel (Peter Simonischek), ein Patriarch und Fabrikbesitzer alter Schule, die labile Schwester (Mavie Hörbiger) mit Hang zur Weltverbesserung, ein alternder Filmemacher und eine neurotische Anwältin (Birgit Minichmayr) mit amourösen Absichten. Daneben arbeiten, putzen und fluchen die Angestellten der Familie, allen voran der ruppige Haustechniker Igor (Rainer Galke), dessen sexistische Bemerkungen das Umfeld brüskieren. Während die gehobene Mittelschicht in Alkohol und Neurosen versinkt, kämpft das Personal vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie um Achtung und Arbeitsplätze.

Das grandiose Ensemble spielt exaltiert, ausufernd und bittersüß. Die schwungvollen Wortgefechte hinter den verglasten Wänden stellen jede TV-Seifenoper in den Schatten. Im letzten Akt gerät dieser Glaspalast zusehends zur Messie-Hütte. Demos und Unruhen suchen die Villengegend heim. Gleichzeitig spitzen sich die persönlichen Zustände und wirtschaftlichen Umstände dramatisch zu. Das Geld ist weg, die neureichen Nachbarn übernehmen Fabrik und Haus. Zwei Todesfälle bringen Wahnsinn und Verzweiflung in die Hausgemeinschaft. In ausschweifenden Monologen wird vom eigenen Unvermögen abgelenkt. Einzig Igor lernt aus seinen Fehlern, ohne dabei in Selbstmitleid zu verfallen. Stone wirft einen präzisen Blick auf die sozialen Verwerfungen unserer Gesellschaft. Mit den „Komplizen“ ist ihm erneut eine frische Klassikeradaption und ein bitterböser Kommentar zum gegenwärtigen Weltgeschehen gelungen.

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