6811098-1972_34_13.jpg
Digital In Arbeit

Die Nachwelt und die Kränze

Werbung
Werbung
Werbung

Das Klassikerwort von der Nachwelt, die dem Mimen keine Kränze flicht, ist sicher in jenen Zeiten, da es entstand, richtig gewesen, jetzt aber nur noch bedingt richtig. Zumindest wenn man unter „Nachwelt“ die Welt versteht, die den oder die Mimen überlebt oder doch diejenigen, die den oder die Mimen noch gesehen und gehört haben. Sie werden nicht müde, sich selbst und uns daran zu erinnern: „Den Kainz hättest du noch sehen sollen! ... Oder den Moissi! Oder Bassermann! Caruso hat das viel schöner gesungen!“ Und so weiter.

Aber in der letzten Zeit hört man solche Worte seltener als früher. Schuld daran sind: die Schallplatte, das Radio, der Tonfilm, das Fernsehen. Jetzt kann man nämlich vieles vergleichen, was früher unvergleichbar und daher unvergleichlich war.

Wenn wir heute eine Schallplatte, sagen wir, von einer bekannten Sängerin um den Beginn des Jahrhunderts, hören oder einen Film aus den zwanziger oder dreißiger Jahren sehen, dann sind wir meist enttäuscht. Ach, wir hatten das viel hübscher, viel erschütternder, viel großartiger in Erinnerung!

Man vergißt freilich: die Akteure, die Sänger, würden es heute vielleicht auch ganz anders machen als damals. Sicher würde Moissi seinen Hamlet-Monolog nicht so unendlich zerdehnen, sicher würde die Wiedergabe der Tannhäuser-Ouvertüre, von Nikisch dirigiert, von modernen Aufnahmeapparaturen aufgenommen, besser klingen als die Aufnahmen aus dem Jahr 1915!

Schopenhauer schrieb ja wohl, die Sehnsucht nach gewissen Stätten, die man früher besucht hat, sei nichts als die Sehnsucht nach der eigenen Jugend. Die Sehnsucht bleibt, solange sie nicht mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Die Erinnerung bleibt — solange sie eben nur Erinnerung ist. Fontane sagt von der Erinnerung, sie sei das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Jetzt werden wir vertrieben, eben gerade dadurch, daß uns erfüllt wird, was wir sehnlichst wünschten: dies oder das noch einmal wiederzusehen oder wiederzuhören.

Wir sollten es bei der Erinnerung belassen und dafür sorgen, daß man uns aus dem Paradies nicht vertreibt. Dann können wir Kränze flechten. Für diejenigen, die wir in so köstlicher Erinnerung haben. Und für uns, wie wir einmal waren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung