Ästhetik als Leitkultur?

Im Urlaub am Achensee in Tirol sind mir einige arabische Familien aus dem Nahen Osten begegnet, die ebenfalls dort ihren Urlaub verbracht haben. Beim Frühstück im Hotel und am See bin ich mit ihnen ins Gespräch gekommen. Auf meine Frage, warum sie sich diese Gegend für ihre Ferien ausgesucht haben, kam immer wieder die Antwort: „Wir kommen jedes Jahr nach Österreich, um die Seen und die wunderschöne Natur zu genießen.“

Ein älterer Herr aus Saudi-Arabien sagte mir: „Die Europäer sind sehr diszipliniert und äußerst verlässlich. Wir kommen hierher, weil alles so transparent ist, von der Hotelbuchung bis zu den Ausflügen, außerdem sind die Straßen sehr sauber. Eine Schande, dass es bei uns nicht auch so aussieht.“ In all diesen Gesprächen habe ich kein einziges Wort zum Thema „Feindbild Westen“ gehört. Europa wird von diesen Touristen in seiner Ästhetik, Schönheit und Disziplin wahrgenommen. Politik hat hier keinen Platz. Einige Influencer unter ihnen machen Videos von den Bergen, Wasserfällen und weiteren Sehenswürdigkeiten und kommentieren diese als Zeugnisse der Allmacht und Barmherzigkeit Gottes, der den Menschen solche Geschenke gemacht habe.

Europa wird nicht als das „Andere“ zum Islam wahrgenommen, sondern als Teil der Manifestation der Schönheit Gottes, im Sinn der Aussage des Propheten Mohammed: „Gott ist schön und liebt die Schönheit.“ Dies erinnert mich an europäische Touristen in den islamischen Ländern, wenn sie von der Schönheit der Moscheen und der islamischen Bauwerke, vom orientalischen Essen, vom Tanz der Derwische und anderen ästhetischen Erlebnissen schwärmen. Auch hier waltet die Faszination der Ästhetik jenseits politischer und sozialer Spannungen und jenseits von Wertedebatten – allein die Ästhetik gilt als Leitkultur für alle.

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster.