"Leitkultur": Demokratie als Folklore?

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Die „Leitkultur“-Kampagne der Kanzlerpartei ist ein mehrfaches Ärgernis – und belegt den Unernst bei der Lösung tatsächlicher Probleme. Wie wäre es mit mehr politischer Kultur?

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Die „Leitkultur“-Kampagne der Kanzlerpartei ist ein mehrfaches Ärgernis – und belegt den Unernst bei der Lösung tatsächlicher Probleme. Wie wäre es mit mehr politischer Kultur?

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Es ist die Zeit der Eskalationen und der bösen Wiedergänger: In Russland hat sich Wladimir Putin pro forma wiederwählen lassen, in den USA nimmt Donald Trump eine Hürde nach der anderen auf seinem geplanten Rückmarsch ins Weiße Haus, im Nahen Osten droht nach einem mutmaßlich israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus ein Flächenbrand – und in Österreich?

Eigentlich sollte man unter Hochdruck die noch immer fehlende Sicherheitsdoktrin finalisieren, das eigene Selbstverständnis zwischen Neutralität und NATO diskutieren und endlich jene Umtriebe zwischen Moskau und Wien inspizieren, die mittlerweile jeden Spionage-Thriller in den Schatten stellen. Doch es ist längst Wahlkampf – offenbar nicht nur die Zeit „fokussierter Unintelligenz“, wie Michael Häupl einst (selbst-)kritisch konstatierte, sondern auch die Zeit unfokussierter Panik.

Wie sonst kann man sich das aktuelle Agieren der ÖVP erklären? Warum sonst lädt man mitten in der Karwoche einen nicht näher vorgestellten Experten-Kreis ins Kanzleramt, um dort an einer „Leitkultur“ zu feilen, die sich in keinem Regierungsprogramm, sondern einzig und allein im jüngsten Wahlkampf-Strategiepapier der Volkspartei findet? Und wie kann es tags darauf gelingen, nicht nur die gekommenen Fachleute mit einer Kampagne in simpelster Blasmusik-Ästhethik zu brüskieren, sondern sogar die Blasmusik selbst? Wer auch immer in der Partei auf die Idee verfiel, nach „Normalität“ und „Bargeld“ nun mit „Leitkultur“ um Stimmen zu buhlen, sollte jedenfalls dringend seinen Kompass justieren: Diesen Begriff zuerst den rechtsextremen Identitären zuzuschreiben und nun damit einen Platz „in der Mitte“ belegen zu wollen – das geht sich ideologisch einfach nicht aus.

„Werte“ – nicht bloß auf dem Papier

Dies alles ist umso ärgerlicher, als eine Diskussion über die Grundlagen des Zusammenlebens in einer kulturell diversen, vielfältigen Gesellschaft tatsächlich gut und wichtig wäre. Auch eine liberale Demokratie muss „wehrhaft“ sein – und intolerant gegenüber Intoleranten. Nicht erst junge Messerstecher und kindliche Vergewaltiger mit Migrationshintergrund haben das überdeutlich werden lassen. Mit einer nebulösen „Leitkultur“, die einerseits nichts anderes umfasst als geltende Gesetze und Menschenrechte, andererseits mit Hinweis auf „Sitten“, „Gebräuche“ und andere Folklore jeder offenen Gesellschaft Hohn sprechen würde und folglich in keinem Gesetz Eingang finden könnte, wird das freilich kaum gelingen.

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