Jom Kippur 2023: Versöhnung mit der Zeit

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FURCHE-Kolumnist Asher D. Biemann denk anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur über Umkehr, Versöhnung und Zeit nach.

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FURCHE-Kolumnist Asher D. Biemann denk anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur über Umkehr, Versöhnung und Zeit nach.

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Jom Kippur in der Brodyer Synagoge, dem einzig erhaltenen historischen Synagogenbau Leipzigs. Das jüdische Bethaus ist fast voll. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus der Ukraine, Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Israel, Ungarn und den Vereinigten Staaten. Es scheint fast wie ein Augenblick der Normalität, wäre da nicht die Erinnerung an den Anschlag auf die Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle vor vier Jahren und überhaupt das Bewusstsein, dass gerade hier das politische Pendel immer weiter nach rechts schwingt. In den Gebeten bitten wir den Schöpfer zu gedenken, dass der Mensch nur Staub ist.

Jom Kippur ist ein Tag der Buße, der „Umkehr“. Doch eigentlich ist es auch ein Tag der Versöhnung. Versöhnt sollen werden die Menschen und die Zeiten. Der Akt der Umkehr, der Teschuwa, ist eben nicht nur Reue, sondern auch die Fähigkeit, etwas gleichzeitig zu sehen. Max Scheler, der ursprünglich jüdische Denker, der sich zeitweilen auch als Katholik fühlte, beschrieb die Umkehr einmal als den Punkt, wo man zugleich zurück ins Tal und nach vorn dem Berg entgegenblickt. Es ist tatsächlich il punto a cui tutti li tempi son presenti, wie es bei Dante hieß: Eine Gleichzeitigkeit aller Zeiten und Zeitgenossen. In diesem Zugleich erst können wir die eigenen Fehler und deren Folgen uns ganz vor Augen führen, sie wirklich bereuen. Denn hier erst erkennen wir unsere Mitmenschen als Gleichzeitige an, als Gegenwärtige.

Die Gegenwart unserer Mitmenschen ist nicht nur Sache des Raumes. Wir mögen den Fremden vor Grenzen stellen, den Unerwünschten von uns schieben, ein Land für unseres allein erklären. Über die Zeit aber können wir nicht frei verfügen. Da sind wir alle Zeitgenossen, gehören wir alle zusammen—und tragen am Ende dieselbe Verantwortung füreinander.

Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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