Im Sommer 1945, als die Lebensmittel knapp sind und der menschliche Lebensraum weitgehend zerstört, nimmt sich die 19-jährige Ingeborg Bachmann vor: „Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herrliche Zeit!“ Wenig später stimmt die Lyrikerin, die sich den Schrecken des Todes und dem Grauen menschlicher Gewalt stellt, ihren großen Sonnengesang an: „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...“ Mitten in bitteren Todeserfahrungen redet die Dichterin dem Leben das Wort. Trotz ihrer Erfahrungen von Hass und Gewalt verliert sie nicht den Glauben an die Liebe. Eine wilde Leidenschaft zum Leben lässt sie die Schönheit der Natur bis zur Neige genießen: „Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt, dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!“
Der französische Philosoph Georges Bataille begreift Poesie als „Schöpfung durch Verlust“. Wie eng bei Bachmann beides zusammenhängt, zeigt nicht erst ihr tragischer Tod. Ihr gesamtes Leben und Schreiben ist von einer „unaussprechlichen Verwundung“ gezeichnet. Wie mit solchen Wunden leben? Und wie mit der Verwundbarkeit umgehen, die sich in der entstehenden Narbe verkörpert? Bachmanns Gedichte, Hörspiele und Reden sind auf der Suche nach dem, was die Mystik „das Geheimnis des Lebens“ nennt. Wie kann Leben aus dem Tod auferstehen? Weil sich Bachmann dieser Herausforderung mit all ihrer Sprachkraft stellt, zähle ich sie zu den großen Mystikerinnen und Mystikern des 20. Jahrhunderts. Sie weicht den Katastrophen ihrer Zeit, die noch immer die unseren sind, nicht aus. Vielmehr verschafft sie gerade hier der Stimme des Lebens Gehör: „Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...“
Die Autorin leitet ein theologisches Forschungsprojekt zur Vulnerabilität an der Universität Würzburg.
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