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„Jeder Mensch ist eine Minderheit“

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Der Nationalsozialismus hat seinen nordamerikanischen Feinden eine Fülle von Gelehrten und Künstlern geschickt, indem er sie zur Auswanderung zwang; und so erlebten die USA eine kulturelle BMite.

Leonid Breschnjew hat durch die Liquidation des Präger Frühlings seinen westlichen Gegnern zwar nicht zu einer Blüte, aber immerhin unter anderem zu Laub geholfen. Gabriel Laub lebt seit 1968 in Hamburg. Wir danken Genossen Breschnjew — nicht für den Einmarsch in Prag, aber für diesen Autor.

Seine neuen Aphorismen, in einem schmalen Band mit einem besonders hübschen Umschlag (Heinz Edelmann) gesammelt, lösen Vergnügen und Zustimmung aus.

Mißt iman Gabriel Laub an Stanislaw Jerzy Lee, dem klassischen Meister des Aphorismus in unserer Zeit, schmeichelt man ihm, denn er bekennt sich zu Lee als seinem Lehrer. Dies steht in einen klugen Nachwort, in dem Laub auch feststellt, der Aphorismus sei heute „ein Sohn des Entsetzens und der Analyse“.

Als vifer Zeitgenosse möchte man rund die Hälfte des Bandes exzerpieren und auswendig lernen, um für zeitkritische Texte und Gespräche mit passenden Formulierungen ausgerüstet zu sein, etwa „Ich habe jeden Welterlöser im Verdacht, daß er den Erlös kassieren will“ und „Menschenrechte sind Rechte für Minderheiten. Denn jeder Mensch ist eine Minderheit“.

Gabriel Laub übt das rare Gewerbe des Satirikers aus. Er schreit mich nicht an,, er unterhält mich auch nicht — er ist also weder Agitator noch Humorist, er weiht mich ein und bezieht mich ein, wenn er mit nassen Augen (weil die Welt ein Jammertal ist) lächelt (weil er eine pointierte Form gefunden hat, dies festzustellen).

Ich lache nicht über ihn, ich kann auch nur selten mit ihm lächeln, aber er erfreut mich; seine Gedanken, zu Kürzestformeln destilliert, sind Leckerbissen für meine Gedanken.

Das Buch ist unterteilt: Politik im weitesten Sinn — Liebe im weitestem Sinn — Gedanken über das Denken — Allfälliges. Es folgt der schon erwähnte Prosa-iEpilog.

Auch apropos liebe gibt es bei Laub aphoristische Stemstunden („Wenn ein Masochist darunter leidet, daß er Masochist ist — ist das für ihn ein Vergnügen?“). Aber gelegentlich rutscht ihm ein Boulevard-Aphorismus mit durch („Die Moral sinkt immer tiefer: Manche Frauen betrügen sogar ihre Liebhaber mit den eigenen Ehemännern“). Doch was verschlägt's?! Die Mehrheit ist über alles Stimrunzeln erhaben; sie bezieht ihre besten Kräfte aus der sachten kritischen Distanz eines, der sich radikal vom Osten distanziert, zum Westen: ,JJer Konsumterror ist mir immer noch lieber als der politische Terror. Ich lasse mir lieber irgendwelche Unterwäsche aufzwingen als die Gehirnwäsche“ — „Der Kriegsgefangene wurde so lange gefoltert, bis er zugab, daß man in seinem Land Kriegsgefangene foltert“.

Frühere Publikationen Gabriel Laubs waren aus dem Tschechischen übersetzt. Ein entsprechender Hinweis ist diesmal nicht vorhanden. Er schreibt und denkt also in deutscher Sprache, er beherrscht sie nicht nur, er läßt sich sogar von ihr beherrschen; („Ein bescheidener Denker: Er denkt besser als er denkt“). Hut ab!

ERLAUBTE FREIHEITEN.

APHORISMEN. Von Gabriel Laub. Reihe Hanser 195. 104Seiten, Leinen, S 67,80.

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