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Ringelnatz - eigenwillig

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Die tragikomische Figur des Joachim Ringelnatz, der eigentlich Hans Bötticher hieß und als Hausdichter der Künstlerkneipe „Simpli-zissimus“ in München berühmt geworden war, fand bereits zu Lebzeiten zahlreiche, häufig einander widersprechende Interpreten. Sein dichterisches Werk jedoch wurde erst nach seinem Tode unter die Lupe genommen. Mit einem über 400 Seiten starken Buch mit umfangreichem bibliographischen Anhang setzt Walter Pape einen vorläufigen, allerdings etwas zu dick geratenen Schlußstrich unter die germanistischen Ringelnatz-Betrachtungen.

Der Interpretationsfreudigkeit des Autors scheint kaum eine Grenze gesetzt, die Gedichte, Selbstzeugnisse ebenso wie Selbstparodien, die häufig mißglückten und mit einer einzigen Ausnahme niemals aufgeführten Dratrnen und seine Kindermärchen werden Zeile für Zelle .auseinandergenommen, untersucht, in häufig etwas kühne Zusammenhänge gestellt. Anekdotisches, an dem gerade“ das Leben dieses skurrilen Schriftstellers, Lyrikers, Malers und Kabarettisten so reich gewesen ist, kommt dabei eindeutig zu kurz. Seine Beziehung zu seiner Frau Muscheid kalk wird nur flüchtig gestreift, während hingegen die Bedeutung des Vaters wiederum zu stark betont erscheint, wenn etwa Ringelnatz' Ein-samikeitsgefühle auf seine Abhängigkeit vom Vater und damit auch von dessen Übeibewertung der Freund-

schaft zurückgeführt werden. Solche oft reichlich überspitzt formulierte psychologische Deutungen finden sich in dem Buch massenhaft.

Immerhin gelingen dem Autor auch subtile Seelenschilderungen: die Verletzlichkeit des Dichters, wie sie zum Beispiel in dem Gedicht „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wüiberforcemo-nuiment“ zuim Ausdruck kommt („ich bin etwas schief ins Leben gebaut, wo mir alles rätselvoll ist und fremd“), seine Abenteuerlust, der Ehrgeiz, mit dem der „mädchenhaft kleine Hans Bötticher mit der langen Nase und der angeborenen Häßlichkeit“ versucht, ein Gefühl des Ausges'chiossenseins zu kompensieren. Sein Versagen als Seemann ebenso wie als großer Dichter und Dramatiker und schließlich sein Ruhm als Simpl-Rezitator werden mit Akribie geschildert und belegt.

Am eindrucksvollsten und schlichtesten hart vielleicht Muschelkalk, die Witwe, sein Wesen charakterisiert, wenn sie über seine letzten, dem Tode nahen Tage schreibt: „Wenn Ringel elend ist, sieht er aus wie ein erstauntes, erschrockenes Kind mit ganz großen Augen. Wenn es ihm gut geht, sieht er aus wie ein schon gestorbener Weiser.“

JOACHIM RINGELNATZ. Parodie und Selbstparodie in Leben und Werk, von Walter Pape. Walter-de-Gruyter-Verlag, Berlin, 457 Seiten.

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