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Terrorismus ist „kranke Sinnsuche“

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Terrorismus und die starke Zunahme der psychischen Krankheiten in der heutigen Zeit haben die gleichen Wurzeln:

• Zusammenbruch der tradierten Werte,

• fehlendes Vorbild von Menschen, die einen Sinn im Leben sehen,

• weitgehendes Fehlen von persönlichen Aufgaben, die dem Menschen etwas abverlangen,

• gestörtes Heimatgefühl und

• mangelnde Kommunikation innerhalb der Gesellschaft.

Das ist die einhellige Meinung der drei Wiener Psychiater Univ.-Prof. Dr. Hans Strotzka, Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel und Univ.-Prof. Dr. Viktor Frankl, die in einer Veranstaltung des Klubs für Bildungs- und Wissen-schaftsjournalisten und der Akademie der Wissenschaften zum Thema „Neurose“ Stellung nahmen.

„Der Terrorismus in Europa hätte verhindert oder zumindest stark abgeschwächt werden können, wenn rechtzeitig mehr Bereitschaft zur Kommunikation in unserer Gesellschaft vorhanden gewesen wäre“, meinte Prof. Ringel. „Die Terroristen von heute gerieten in das Niemandsland zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft, wie schon Franz Kafka diesen Zustand beschrieb.“ Damit trat Prof. Ringel vehement der Ansicht entgegen, daß der Terrorismus eine Massenneurose sei.

Prof. Strotzky wiederum warnte davor, den Terrorismus als Nur-Krimi-nalität abzutun. In unserer modernen Welt und Gesellschaft sei „nicht ohnedies alles in Ordnung“, es gebe sehr wohl „kranke Bereiche“. Als Beispiel nannte der Psychiater etwa die Nachkriegsarchitektur, die in gröblicher Weise vernachlässigt habe, den Bewohnern menschliche Geborgenheit und Heimatgefühl zu vermitteln.

Das Gefühl der Sinnlosigkeit sei die Massenneurose von heute, stellte Prof. Frankl fest. Jugendkriminalität, Drogensucht, Alkoholismus und Selbstmord zeigten auf erschreckende Weise das geistig-seelische Krankheitssymptom auf. Terrorismus könne zwar nicht als Neurose bezeichnet werden, wurzle aber zweifellos ebenfalls in der zunehmenden geistigen Sinnentleerung, Sinnsuche, die sich auch in politischen Aktionen manifestieren kann, dürfe aber niemals - wie das bei den Terroristen der Fall ist- ohne die Kontrolle des menschlichen Gewissens erfolgen.

Die Wissenschafter richteten gemeinsam einen dringenden Appell an die Öffentlichkeit, an der Bewältigung dieser für die Gesellschaft auf längere Sicht lebenswichtigen Probleme mitzuwirken. So könnten Eltern und Lehrer schon in der Erziehung der Kinder - wie alle drei Wissenschafter betonten, der wichtigste Ansatzpunkt -durch ihr Vorbüd die Entstehung von späteren Neurosen verhindern. Die Politiker sollten dafür sorgen, daß sich kein einziger Bürger von den Aufgaben der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlt. Sozial- und Kommunikationskonzepte, aber auch neue Formen der Architektur und der Erziehung müßten eingesetzt werden. Eine Bewältigung der Probleme werde nur dann möglich sein, wenn es zu einem Zusammenwirken von allen Kräften -Sozialarbeitern, Theologen, Medizinern, Philosophen, der Kirche insgesamt, aber auch der Massenmedien -kommt.

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