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Siegfried Lenz ist für eine neue Art, seine Pflicht zu erkennen

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Hat der Begriff der Pflicht heute noch jenen Stellenwert, den er bis vor einigen Jahrzehnten einnahm? Oder mußte er im Zuge des Wertewandels gegenüber anderen Normen, etwa der Selbstverwirklichung, zurücktreten? Die Frage, bei uns zuletzt anläßlich der Vorwürfe gegen Kurt Waldheims Pflichterfüllung lebhaft erörtert, ist eines der Hauptthemen im Werk des Schriftstellers Siegfried Lenz.

Auch „Panikj1, eine der Erzählungen in seinem neuen Buch „Ludmilla", hat das Verhalten in einer extremen Situation zum Thema. Dieser neue Band beweist wieder die große erzählerische Begabung und Ausdruckskunst von Lenz. Freilich können nicht alle dieser neuen Erzählungen den von Lenz verwöhnten Leser voll befriedigen; am besten wohl neben der Titelgeschichte die kürzeste, „Ein Abstecher", die wie oft bei Lenz einen historischen Hintergrund hat.

lenz verdankt seinen literarischen Erfolg und seine Beliebtheit auch dem Umstand, daß er kein Avantgardist ist, den literarisch-kulturellen Modeerscheinungen nicht folgte, wohl aber in Handlungen und Personen den jeweiligen Zustand einer Gesellschaft ergründet. Dabei gibt er aber, wie beim Thema „Pflicht" besonders deutlich wird, dem Leser nicht etwa gedankliche Weisungen; er überträgt es ihm, seine eigene Ent-

scheidung zu treffen. Mit Hilfe der Literatur möchte Lenz darüber hinaus einem möglichst breiten Publikum soziales Verantwortungsbewußtsein vermitteln; er will seine Figuren verstehen und ihr Verhalten verständlich machen. Seine Bücher enthalten Botschaften an die mündigen Leser

In seinem erfolgreichsten Roman, „Deutschstunde", wird die gedankenlose Pflichterfüllung, der blinde Gehorsam eines Ortspolizisten, der von einem Maler sich selbst auferlegten Gewissenspflicht zu künstlerischer Arbeit (trotz Berufsverbotes im NS-Regime) gegenübergestellt. Wie stark diese weite Problematik das Werk von Lenz durchzieht, weist der Germanist Claus Nordbruch in einer zum 70. Geburtstag des Schriftstellers herausgekommenen analytischen Studie mit stellenweise ausufernder wissenschaftlicher Genauigkeit nach. Denn auch die Novelle „Das Feuerschiff" und die Erzählungen „Schwierige Trauer" und „Ein Kriegsende" stellen diese Problematik in den Mittelpunkt.

Lenz sieht die Pflicht als notwendige Grundlage menschlichen Zusammenlebens, wirft aber durch das Verhalten der einander gegenübergestellten Personen die Frage auf, ob der Pflichtbegriff unreflektiert in unserem Wertesystem verbleiben soll. Die Pflicht im Spannungsfeld zwischen Rechtsnormen und Menschlichkeit bei Lenz untersucht Nordbruch mit großer Sachkenntnis

und aufschlußreichen historischen Hinweisen. Leider bleibt unerwähnt, daß für den Maler Nansen (in der „Deutschstunde") Emil Nolde das gedankliche Vorbild war; auch hätten zumindest die Romane „Heimatmuseum" und „Auflehnung" in die Studie einbezogen werden können.

Lenz, der mit Heinrich Boll und Günter Grass zu den großen Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur gehört, behandelt die unterschiedlichen ethischen Einstellungen zur Pflicht oft anhand der Gegenüberstellung von Vater und Sohn, und damit auch- der Väter- und der Nachkriegsgeneration.

Er schildert aber ebenso überzeugend die menschliche Psyche im Lichte der Erkenntnis, daß extreme Situationen zu überraschendem Verhalten führen. „Da bist du genötigt, dich zu offenbaren ... und kannst 30 oder 40 Jahre deines Daseins auf erschreckende Weise widerlegen", meinte er in einem Gespräch. Das kommt geradezu dramatisch im „Feuerschiff" und ebenso in „Ein Kriegsende" zum Ausdruck.

LUDMILLA

Erzählungen von Siegfried Lenz. Hoffman und Campe, Hamburg 1996. 174 Seiten, geb., öS2)5,-

ÜBER DIE PFLICHT

Eine Analyse des Werkes von Siegfried Lenz. Von Claus Nordbruch. Verlag Olms-Weidmann, Hildesheim 1996. 249 Seiten, öS 370

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