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Literarisches Handwerk ersten Ranges

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Man hatte gesagt, er beherrsche nur die kleine Form, bis Siegfried Lenz mit den 560 Seiten seiner „Deutschstunde“ vom Gegenteil überzeugte, Im Gesamtwerk des Vierundvierzigjährigen stehen — neben her szenischen Werken und einem Band Essays — sechs Romane sechs Büchern Erzählungen gegenüber. Sieht man von dem ganz ungewöhnlichen Erfolg der „Deutschstunde“ ab, so läßt doch der Querschnitt des vorliegenden gewichtigen Bandes mit 37 Erzählungen aus den Jahren 1949 bis 1964 den Schluß zu, daß Lenz sich primär als Geschichtenerzähler erweist.

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Man hatte gesagt, er beherrsche nur die kleine Form, bis Siegfried Lenz mit den 560 Seiten seiner „Deutschstunde“ vom Gegenteil überzeugte, Im Gesamtwerk des Vierundvierzigjährigen stehen — neben her szenischen Werken und einem Band Essays — sechs Romane sechs Büchern Erzählungen gegenüber. Sieht man von dem ganz ungewöhnlichen Erfolg der „Deutschstunde“ ab, so läßt doch der Querschnitt des vorliegenden gewichtigen Bandes mit 37 Erzählungen aus den Jahren 1949 bis 1964 den Schluß zu, daß Lenz sich primär als Geschichtenerzähler erweist.

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Denn auch in seinem umfangreichsten Roman ging es ihm nicht um „große Sachen“. Auch da folgt er eher dem Alltäglichen, dem Nebensächlichen, am Rand Liegenden, aus dem sich unversehens das Wichtige, das Künftige und Gültige ergeben sollte. Nie ist es eine bloß so dahererzählte Geschichte, sondern erzählt aus der Rechtfertigung des Künstlers als „Mitwisser von Rechtlosigkeit, von Verfolgung und riskanten Träumen…“. Überall geht es diesem Erzähler um das, was festgehalten zu werden verdient, nicht um beliebiges Erfinden. Erzählt wird mit den Mitteln einer Sprache, die — wie nicht bald bei einem anderen deutschen Autor — dem mit den Sinnen Wahrgenommenen mit natürlicher Genauigkeit und Anschaulichkeit entspricht, die Wirklichkeit da zu verstehen versucht, wo sie nichts preiStgeben möchte. Der lange Atem seines Erzählens, die Spannung, in die er den Leser versetzt, resultiert aus dem, was Lenz die „verpflichtende Architektur“ seiner Geschichten genannt hat. Dazu gehören für ihn: „Aufwand an Phantasie, bedachtsamer Bau, Ausschluß des Zufalls, verknüpfte Beziehungen.“

Es ist literarisches Handwerk ersten Ranges, das uns Lenz in seinem „Bau“ bietet. Er wendet sich damit entschieden gegen jene modernen Ästhetiker, die Geschichten nicht mehr gelten lassen wollen, die nur noch das Dokumentarische und die kühle Distanzierung vom Berichteten anerkennen. Als Musterbeispiel seines Erzählens kann die längste Geschichte des vorliegenden Bandes „Das Feuerschiff“ gelten, die mit ihren 128 Seiten schon einem Kurzroman entspricht. Großartig, wie Lenz das Zusammentreffen zwischen den drei aus Seenot geborgenen Gangstem und der kleinen Besatzung des vor Anker liegenden Wach- und Signalschiffes bis zum bitteren Ende schildert; wie der Vater-Sohn-Konflikt (der Kapitän hat seinen Jungen ausnahmsweise an Bord genommen) ausgetragen wird, von fern schon auf den Vater- Sohn-Konflikt in der acht Jahre späteren „Deutschstunde“ hinweisend, so wie die Kurzgeschichte „Der Läufer“ auf den Roman „Brot und Spiele“.

Wie da im „Feuerschiff“ auf knappste Weise, in festem, genauem Zugriff Haltung und Verhalten von Menschen in einer extremen, aussichtslosen Lage geschildert wird, wie sich die innere Dynamik ständig steigert, das könnte von Hemingway erzählt sein, den Lenz neben Faulkner als eines seiner amerikanischen Vorbilder nennt. Nur daß Hemingway artistischer wirkt, wo sich Lenz beteiligter, persönlicher gibt. Vor allem aber ähneln seine Gestalten eher alltäglichen Menschen als jenen heute schon fast ein wenig komisch wirkenden Stierkämpfern, Jägern, Boxern und sonstigen Supermän- nem, welche die doch schon etwas verblassende Prosa Hemingways und seiner Nachahmer bevölkern. Lenz versteht es, mit sparsamen Worten Konflikte und Stimmungen anzudeuten, durch die Darstellung eines alltäglichen Geschehnisses tiefere Zusammenhänge sichtbar zu machen, wie etwa in der Kurzgeschichte aus dem Jahre 1952 „Ein Haus aus lauter Liebe“, worin auf bloß neun Seiten ein Student als Babysitter die Brüchigkeit eines Hauses und einer Familie mit erschreckender Deutlichkeit erkennt.

Der Band zeigt auch die Entwicklung des Erzählers Lenz, wie sein Temperament von dem manchmal Krampfhaften und Stilisierten früherer Arbeiten zur Besonnenheit und Gelassenheit, zu glaubhafter Wirklichkeit gefunden hat. Ein Erzähler, der sich auf seine Eigenart besinnt, der Fiktion als Fiktion anbietet und völlig darauf verzichtet, den Anschein zu erwecken, es handle sich um nackte Tatsachen. Lenz läßt einen wieder glauben, daß Erzählen „nicht nur eine große Vergangenheit, sondern auch eine große Zukunft“ habe.

GESAMMELTE ERZÄHI..VNGEN. Von Siegfried Lenz. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg. 334 Seiten. S 128.—i

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