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Zauberspiegel der Poesie

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SIEGELHÜTTE. Von Hermann Lenz. Jak ob-Hegner-Verlag, Köln/Olten. 238 Seiten Preis 15.80 DM.

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SIEGELHÜTTE. Von Hermann Lenz. Jak ob-Hegner-Verlag, Köln/Olten. 238 Seiten Preis 15.80 DM.

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Hermann Lenz, obwohl ein Außenseiter der modernen deutschen Literatur, der erhebliche Ansprüche an die Phantasie seiner Leser stellt, hat sich schon mit seinem bisherigen Werk — drei Erzählerbänden und den beiden Romanen „Der russische Regenbogen“ und „Nachmittag einer Dame“ — einen Freundeskreis geschaffen. Wenn man nach einem Nenner für die Wesensmerkmale seiner Publikationen sucht, fällt einem ein Wort Jean Pauls ein: „Die Dichtkunst ist kein platter Spiegel der Gegenwart,sondern der Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist“ Das gilt ganz besonders für Lenz’ Buch „Spiegelhütte“, in dem sich seine hintergründige Fabulierkunst vollendet offenbart und in dem er sich als souveräner Beherrscher, als Magier der Sprache erweist, wie es heute nur wenige gibt.

In drei Episoden wird hier, von verschiedenen Blickpunkten aus, eine Traumwelt, ein von Verstorbenen und Träumern bevölkertes „Zwischenland“ zu eigenwilligem Leben erweckt. Die Ereignisse spielen sich in der Stadt Drommersheim ab, die „überall und nirgends existent“ und in der die Zeit aufgehoben ist. Römisches Imperium, Mittelalter, neunzehntes Jahrhundert und unsere Gegenwart — das alles geht ineinander über: „Auf der Welt existieren nur Augenblicke und Vergangenheit“, Vergangenheit, die für uns oft gegenwärtiger ist als der heutige Augenblick und ganz gewiß mächtiger als die Zukunft, die einmal. als „leerer Nebel“ bezeichnet wird.

In Drommersheim begegnet jeder seiner eigenen Vergangenheit, dem Versäumten, Nichtgeleisteten; hier wird er dem Verfall und der Vergänglichkeit gegenübergestellt, und es gilt, Entscheidungen zu fällen zwischen den Mächten, die dort, wie überall, wirksam sind, den Mächten der Ordnung und des Chaos. Noch regiert in Drommersheim der Statthalter, ein gelassener, weiser Mann, der Liebe, Glauben und Frieden als tragende Fundamente seiner Herrschaft betrachtet. Aber der Boden ist schon brüchig geworden, unterhöhlt von den „Babyloniern“, die in Drommersheim für das anarchische Prinzip stehen, das auch großartig symbolisiert wird in der „Schlammwelt der Schlangenflsche“, die den festen, sicheren Grund unterminiert. Die bedrohte Welt von Drommersheim, in der das Vage, Ungreifbare und Absurde ständig an Spielraum gewinnt, sie ist die unsere — das wird im Verlauf der Lektüre immer klarer. Jene Traumwelt von Drommersheim ist ein gültiges Spiegelbild unserer Situation, unserer Ängste und Gefährdungen. Aber Lenz bleibt nicht bei dieser Zustandsschilderung stehen; er zeigt versteckte Ansatzpunkte für die Bewältigung der Bedrohung, der der Mensch — in Drommersheim und überall — ausgesetzt ist. Sie liegen in der Besinnung auf einen inneren Bereich.

Vielleicht darf man es als positiven Fingerzeig werten, daß der Schlußteil des Buches mit einer echten mitmenschlichen Bindung endet, während die erste Episode mit der Feststellung des Helden schließt, daß er fort muß aus Drommersheim, „wo alles hell geworden war“, und die zweite auf die Sehnsucht verweist und auf „manana“: „Morgen wird alles weggefegt sein, was euch bedrängt…“

Wir sagten es schon, Lenz stellt Ansprüche an die Einfühlungsgabe seiner Leser. Aber es lohnt, seine oft krausen und immer eigenwilligen Pfade nachzugehen.

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