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Zauberspiegel der Poesie

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SPIEGELHÜTTE. Von Hermann. L e n z. Jakob-Hegner-Verlag, Köln-Olten, 1962. 238 Seiten. Preis 15.80 DM.

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SPIEGELHÜTTE. Von Hermann. L e n z. Jakob-Hegner-Verlag, Köln-Olten, 1962. 238 Seiten. Preis 15.80 DM.

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Hermann Lenz, obwohl ein Außenseiter der modernen deutschen Literatur, der erhebliche Ansprüche an die Phantasie seiner Leser stellt, hat sich schon mit seinem bisherigen Werk — drei Bänden Erzählungen und den beiden Romanen „Der russische Regenbogen“ und „Nachmittag einer Dame“ — einen Freundeskreis geschaffen. Wenn man nach einem Nenner sucht für die Wesensmerkmale seiner Publikationen, fällt einem ein Wort Jean Pauls ein: „Die Dichtkunst ist kein platter Spiegel der Gegenwart, sondern der Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist.“ Das gilt ganz besonders für Lenz’ neues Buch „Spiegelhütte“, in dem sich seine hintergründige Fabulierkunst vollendet offenbart und in dem er sich als souveräner Beherrscher, als Magier der Sprache erweist, wie es heute nur wenige gibt.

In drei Episoden wird hier, von verschiedenen Blickpunkten aus, eine Traumwelt, ein von Verstorbenen und Träumern bevölkertes „Zwischenland“ zu Leben erweckt. Die Ereignisse spielen sich in der Stadt Drommersheim ab, die „überall und nirgends existent" und in der die Zeit aufgehoben ist.

In Drommersheim begegnet jeder seiner eigenen Vergangenheit, dem Versäumten, Nicht-Geleisteten; hier wird er dem Verfall und der Vergänglichkeit gegenübergestellt, und es gilt, Entscheidungen zu fällen zwischen den Mächten, die dort, wie überall, wirksam sind: den Mächten der Ordnung und des Chaos. Noch regiert in Drommersheim der Statthalter, ein gelassener, weiser Mann, der Liebe, Glauben und Frieden als tragende Fundamente seiner Herrschaft betrachtet. Aber der Boden ist schon brüchig geworden, unterhöhlt von den „Babyloniern“, die in Drommersheim für das anarchische Prinzip stehen, das auch großartig symbolisiert wird in der „Schlammwelt der Schlangenfische“, die den festen, sicheren Grund unterminiert. Die bedrohte Welt von Drommersheim, in der das Vage, Ungreifbare und Absurde ständig an Spielraum gewinnt, sie ist die unsere — das wird im Verlauf der Lektüre immer klarer. Jene Traumwelt von Drommersheim ist ein gültiges Spiegelbild unserer Situation, unserer Ängste und Gefährdungen.

Aber Lenz bleibt nicht bei dieser Zustandsschilderung stehen; er zeigt versteckte Ansatzpunkte für die Bewältigung der Bedrohung, der der Mensch — in Drommersheim und überall — ausgesetzt ist. Sie liegen in der Besinnung auf einen inneren Bereich, auf das Beständige, das vom Verfall nicht mehr heimgesucht werden kann.

Wir sagten es schon; Lenz stellt Ansprüche an die Einfühlungsgabe seiner Leser. Aber es lohnt, seine oft krausen und immer eigenwilligen Pfade nachzugehen. In seinem Spiegel unserer Welt und des menschlichen Daseins schlechthin werden die Geheimnisse offenbar, um deren Erkenntnis wir uns so oft drücken, weil die Verflachung ja viel einfacher ist.

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