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Mutmaßungen über Vorbilder

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Fünf Jahre nach der „Deutschstunde“ ist jetzt Siegfried Lenz' neuer Roman „Das Vorbild“ erschienen. Wieder steht ein pädagogisches Thema im Mittelpunkt der Geschehnisse, was nun freilich nicht im engen fachwissenschaftlichen Sinn verstanden werden darf.

Dies die Handlung: In Hamburg treffen einander drei Pädagogen, um für den Abschnitt „Lebensbilder — Vorbilder“ eines modernen deutschen Lesebuches ein zeitgemäßes Beispiel zu finden. Sie kommen angemessen vorbereitet zusammen, legen ihre Vorschläge auf den Tisch und müssen erstaunt feststellen, daß Einigung über die Auswahl schwierig ist. Ein gebrauchsfähiges Beispiel fürs Lesebuch, dem alle drei zustimmen, will sich nicht finden lassen. Also beginnen die drei zu sinnieren, wie ein Vorbild das moderne junge Leute ansprechen könnte, auszusehen habe. Der alte Rektor im Ruhestand, Pundt, ist zwar überzeugt, daß auch die heutige Jugend nach Vorbildern verlangt, an denen Orientierung möglich ist, Bewährung demonstriert wird; „die unwillkürlich verpflichten und herausfordern“, steuert Frau Dr. Süßfeldt bei. Aber der Lehrer Heller will von derartigem „pädagogischen Lebertran“ nichts wissen, findet „das Hervorragende asozial“, niemand könne sich damit solidarisieren. So gehen die Überlegungen her und hin, bis schließlich Einigkeit darüber erzielt wird, daß ein Vorbild im Sinne von Bravourheldentum nicht in Frage komme. Handlungen, die vorbildlich genannt werden könnten, müßten nicht allein verpflichten, sondern auch Widerspruch zulassen. Unserer Zeit angemessene Vorbilder dürfen nicht chloroformieren. „Ein heutiges Vorbild kann uns nur auf exemplarische Weise umstritten vorkommen.“

So weit, so gut. Aber wo ein Solches Beispiel hernehmen? Ein Außenstehender weist die drei Pädagogen schließlich auf die Biologin

Lucy Beerbaum hin, für die die um-rissenen Voraussetzungen zuzutreffen scheinen.

An diesem Punkt der Handlung ergibt sich für Lenz die Gelegenheit, viele Geschichten aus dem Leben der Frau Beerbaum einzublenden. Sie ist Griechin und arbeitet in Hamburg, in einem Forschungsinstitut, an einer wichtigen Aufgabe. Nach dem Putsch der griechischen Obristen, in dessen Gefolge viele von Lucys Freunden und früheren Kollegen verhaftet und in Lagern interniert werden, beschließt sie, einen Akt besonderer Anteilnahme zu setzen. Sie läßt sich vom Institut beurlauben und unterwirft sich hinfort den gleichen Lebensbedingungen, zu denen die griechischen Häftlinge verurteilt sind. Sie vegetiert auf dem gleichen engen Raum, ißt nicht mehr, als sie zu essen bekommen, bemißt ihre Spaziergänge nach den Beschränkungen der Häftlinge und reduziert ihre Beziehungen zur Außenwelt auf die ihnen auferlegten Bedingungen. Kein Protest das alles, wie Lucy immer wieder betont, nur Anteilnahme und Solidarität gegenüber den Opfern der griechischen Diktatur. Sie stirbt schließlich an den Folgen des Experiments.

Die drei Pädagogen zeigen sich fasziniert von Lucy Beerbaums Lebensgeschichte. Eine Einigung über das gesuchte Beispiel scheint nahe. Aber da erklärt eines Tages der Rektor Pundt, der anläßlich einer Hilfsaktion fürt Bedrohte von Rockern zusammengeschlagen wurde und im Spital liegt, er mache nicht mehr mit. „Ich habe eingesehen, daß ich nicht der Mann bin, der anderen Vorbilder empfehlen kann. Ich bin, wenn Sie so wollen, nicht zuständig dafür.“

Im letzten Augenblick, kurz vorm Erfolg aufgeben, das wollen die beiden anderen nicht. Sie einigen sich auf zwei Episoden aus Lucy Beerbaums Leben, die zu einer verschmolzen werden sollen, die die Verbimdlichkiet eines Vorbilds demonstriert und zugleich in Frage stellt. Der Verleger aber lehnt das Beispiel ab mit dem Einwand, bei Frau Beerbaum handle es sich um „Auflehnung in Demut“, um „Lotosblüten gewaltlosen Widerstands“, die einer emanzipatorischen Erziehung nicht gemäß seien. Keine Einigung also, alles bleibt offen.

Soweit die Mutmaßungen zum Thema Vorbild. Leser, die argwöhnen, es sei eigentlich nicht besonders attraktiv, kennen unseren Autor schlecht. Lenz beläßt es gewiß nicht bei theoretischen Überlegungen und Diskussionen. Zwei zeitlich und handlungsmäßig verschiedene Erzählströme laufen nebeneinander und werden zu einer Einheit verschmolzen. Die drei Pädagogen treten nicht nur im Zusammenhang mit ihrer Aufgabe — der Suche nach dem Vorbild — ins Blickfeld. Ihre persönliche Situation, ihre eigenen ungelösten Lebenskonflikte werden aufgerollt und zum Hauptthema in Beziehung gesetzt.

Zum erstenmal in einem Roman von Lenz ist die unmittelbare Gegenwart Gegenstand der Handlung; aber die Vergangenheit wird als Voraussetzung der Zeitgeschehnisse transparent. Daß Pundt sieh als nicht zuständig für die Empfehlung eines Vorbildes erklärt, ist die Folge seines

Suchens nach Motiven des Selbstmordes seines hoffnungsvollen Sohnes. Ihm wird dabei deutlich, daß sein eigenes Verhalten, die autoritäre Erziehung des Sohnes, ein Grund für dessen Freitod gewesen ist. Gerade in dem Augenblick, in dem Pundt eine vorbildliche Tat setzt — das Engagement für Bedrohte —, wird er selbst zum Opfer von brutalen Schlägern. Und dieser Augenblick ermöglicht ihm neue Einsichten, ihn selbst und das Leben schlechthin betreffend.

Es gibt verschiedene solche Annäherungen an das Vorbild im Verlauf der Handlung des Romans. Aber immer bleibt es bei der Annäherung. Wie-schon gesagt, am Schluß ist alles offen. Gerade diese Offenheit scheint mir eine Aufforderung an den Leser, sich selbst seine Gedanken zu machen zum Thema. Er wird gestellt, zu eigener Entscheidung herausgefordert, wie das so oft bei Lenz geschieht. Er ist ein Moralist, aber einer, der Belehrung mittels Humors und Ironie in ein vergnügliches Gewand zu hüllen weiß.

Viele weitere Details über die Themen des Autors und seine ungemein interessante Kompositionstechnik wären erwähnenswert, auf die wir hier aus Raummangel verzichten müssen. Wer sich näher orientieren möchte, sei auf einen Sammelband über Siegfried Lenz hingewiesen, der gleichzeitig mit dem Roman „Das Vorbild“ erschienen ist und von Colin Ruß herausgegeben und zusammengestellt wurde. Das Buch enthält frühere und gerade erschienene Arbeiten namhafter Publizisten und Kritiker über die Werke des Autors: Querschnitte, Einzelstudien und Bilanzen. Untersuchungen auch über spezielle Engagements von Lenz, die Politik, das Generationsproblem, die Frage der Schuld und theologische Grundfragen betreffend. Die Stel» lung des Autors innerhalb der Gegenwartsliteratur wird fixiert, seine Zugehörigkeit zu Gruppen und seine Eigenständigkeit abgegrenzt.

Der Schlußsatz eines Essays von Rudolf Walter Leonhardt in dem Sammelband sei hier zitiert: „Siegfried Lenz ist ein großer deutscher Schriftsteller.“ Er ist es, wie der neue Roman wieder erweist.

DAS VORBILD. Roman von Siegfried Lenz. 527 Seiten. — DER SCHRIFTSTELLER Siegfried Lenz. Urteile und Standpunkte. Herausge-gegeben von Colin Ruß. 272 Seiten. Beide erschienen im Hoffmann-&-Campe-Verlag, Hamburg, 1973.

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