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Entrümpeltes „Heimatmuseum“

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Der Meisterer Zähler Siegfried Lenz kann nicht nur schreiben und ein Romansujet virtuos komponieren, er hat auch gelernt, einen riesigen Leserkreis anzusprechen, ohne Abstriche von der literarischen Qualität zu machen. Ein Naturtalent, das sich zum legitimen’Erfolgsautor durchgearbeitet hat. Die NS-Zeit als Romanthema war bei den deutschen Verlegern tabu - bis Lenz mit seiner „Deutschstunde“ einen Millionenerfolg errang. Mit seinem neuen Roman „Heimatmuseum“ legt er sich mit Deutschlands Heimatvertriebenen an. Die Startauflage beträgt 100.000 Stück, aber nicht Verlagsspekulation, sondern die noch immer vorhandene Virulenz des Themas und die Ehrlichkeit, mit der Lenz es angeht, garantieren den Erfolg als Bestseller.

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Der Meisterer Zähler Siegfried Lenz kann nicht nur schreiben und ein Romansujet virtuos komponieren, er hat auch gelernt, einen riesigen Leserkreis anzusprechen, ohne Abstriche von der literarischen Qualität zu machen. Ein Naturtalent, das sich zum legitimen’Erfolgsautor durchgearbeitet hat. Die NS-Zeit als Romanthema war bei den deutschen Verlegern tabu - bis Lenz mit seiner „Deutschstunde“ einen Millionenerfolg errang. Mit seinem neuen Roman „Heimatmuseum“ legt er sich mit Deutschlands Heimatvertriebenen an. Die Startauflage beträgt 100.000 Stück, aber nicht Verlagsspekulation, sondern die noch immer vorhandene Virulenz des Themas und die Ehrlichkeit, mit der Lenz es angeht, garantieren den Erfolg als Bestseller.

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Es gibt „Szenische Werke“ und „Essays“ unter den zwei Dutzend Büchern des 1926 in Ostpreußen geborenen Siegfried Lenz. Bekannt wurde er aber durch seine seit 1951 erschienenen Erzählungen und Romane, berühmt schließlich mit der „Deutschstunde“ (1968): Da muß ein nonkonformistischer Schüler „Die Freuden der Pflicht“ als Strafarbeit im Karzer absolvieren, weil er sie nicht konformistisch als Schularbeit in der Deutschstunde zustande gebracht hat. Lenz schrieb sich von der Seele, wars sich sein Siggi Jepsen im Schularrest von der Seele geschrieben hat - mehr als dem Lehrer lieb war. Es wurde eine exemplarische „Deutschstunde“ für bessere Leser. Genau so doppelbödig wie der Titel des neuesten Romans von Siegfried Lenz: „Heimatmuseum“.

Inhaltsangabe, rein technisch: 15 Kapitel, 15 Tage im Spital, wo der alte Zygmunt Rogalla den 24jährigen Martin Witt (er ist der „Fast-Verlobte“ seiner Tochter Henrike) empfängt und diesem seine Lebensgeschichte als notwendige Vorgeschichte seiner Tat erzählt; ein 650-Šeiten-Monolog also. Am Beginn des achten Kapitels sieht er seinen Zuhörer zum erstenmal: Der Gesichtsverband ist abgenommen, die Brandwunden heilen allmählich. Im ganzen: Ein Heimatvertriebener, der als Kind die Masurenkämpfe Hinden- burgs erlebt hat, und alles seither, versucht einem jungen Menschen, der diese schweren und schwerwiegenden Erfahrungen nicht hat, begreiflich zu machen, daß es das unauslöschlich gibt, was man „Heimat“ nennt; daß aber der sogenannte Heimatgedanke meist total verfälscht wurde und ihm nichts übrigblieb, als sein eigenes Heimatmuseum anzuzünden und zu vernichten, um „saubere .Hände zu behalten“.

Zygmunt Rogalla wollte nämlich als privater Heimätforscher das vom Onkel ererbte und dann unermüdlich vervollständigte Museum als vielschichtige V ergangenheitsdokumen- tation eines Grenzlandes verstanden wissen. Die Majorität von Verbandsangehörigen aber wollte daraus „Heimatstolz“ sowie ein „Recht auf Heimat“ ableiten, und sein eigener Sohn Bernhard bezeichnete das Ergebnis der väterlichen Bemühungen umgekehrt als „Andachtsschuppen“. Mißverständnis da wie dort.

Siegfried Lenz selbst ist in der Masurenhauptstadt Lyck am Lyck-See auf-

gewachsen. Man sang das Masurenlied, als er ein Kind war, sah auf zu dem Denkmal eines berühmten Bosnia- ken-Kommandeurs, zu dem Bild Hin- denburgs im Klassenzimmer und hatte eine „Pruzzisch-sudauische Vergangenheit“, wie man aus der autobiographischen Skizze „Ich zum Beispiel“ von Lenz weiß. All das kommt auch im Roman zur Sprache, nur daß der Ort Lucknow heißt und am Lucknow-See liegt. Lenz (beziehungsweise der Ich- Erzähler Zygmunt) holt geschichtlich und familiengeschichtlich weit aus, genauer wird er aber erst bei dem tyrannischen Domänenpächter Alfons Rogalla, dem Großvater, beim Vater Jan Rogalla, welcher „der berühmteste

Hersteller und Verkäufer von Wundermitteln“ war, und bei jenem Onkel Adam Rogalla: „der freiberufliche Heimatforscher, der sanft erregte Maulwurf unserer masurischen Vergangenheit“ lehrt den Knaben, „daß Weltkunde mit Heimatkunde beginnt - oder mit ihr endet. Da er kinderlos starb, fielen mir eines Tages das Haus und das Museum zu.“

Sonja Turk, „die größte und sonderbarste Teppichweberin Masurens“, hat in einem schweren Buch mit rotem Ziegenledereinband alles über „unsere Teppichkunst“ aufgezeichnet, „bevor sie es mir übergab; mir, dem einzigen Schüler, den sie jemals bereit war, anzunehmen“. Er wollte es aus dem brennenden Haus retten, was mißlang und ihn beinah das Leben gekostet hätte - doch das trug sich in Egenlund bei Schleswig zu, wohin es den Hei- matvertriebenen bei Kriegsende- erschlagen hatte. Er verlor auf der Flucht die erste Frau und das Söhnchen, aber er rettete die wichtigsten Stücke des Museums.

Die geistige Tragödie: Schon im Dritten Reich wollte man das Museum gleichschalten, Zeugnisse slawischen Ursprungs oder unrühmlicher Ereignisse aussondern, was Zygmunt zur Not abzuwehren verstand; doch das ist lange her. Nur daß sich nun alles wiederholt, friedlich und um so unerbittlicher. Die „Übernahme des Museums durch den Lucknower Heimatverein“ wird einfach beschlossen, die dokumentarischen Spuren der NS-Herr- schaft in Lucknow (etwa die damals heimlich gesammelten NS-Hetzplaka- te) passen dem Ältestenrat nicht, kein Wunder, man hat ja beim alljährlichen Heimat-Treffen (immerhin 800 Teilnehmer) den einstigen NS-Oberbon- Z.en von Lucknow zum Vorsitzenden gewählt. „… ich hatte das Gefühl, mich am jenseitigen Ufer zu befinden“, und „ich sang nicht mehr mit“. Nach dieser Wahl hatte der unpolitische Forscher keine Wahl und „nur den Wunsch, die gesammelten Zeugen unserer Vergangenheit in Sicherheit zu bringen, in eine endgültige, unwiderrufliche Sicherheit’, aus der sie zwar nie wieder zum Vorschein kommen würde, wo sich aber auch niemand mehr ihrer bemächtigen könnte …“ Zygmunt Rogallas Jugendfreund Conny Karrasch, nun Gründer und Chefredakteur des „Lucknower Boten“, berichtet über die Brandstiftung in einem „Offenen Brief1, betitelt „An den treulosen Treuhänder der Vergangenheit“. Wahrheit und Treue stimmen schon lange und noch immer nicht überein. Nur die Erinnerung ist dem alten Teppichwirker und Heimatforscher treu geblieben; noch im Spital hat er begonnen, „das Buch, mit Sonja Turks eigenwilligem und von Fehlern wimmelndem Vermächtnis, das ich nach und nach auswendig gelernt habe“, aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, das Buch über die masurische Teppichkunst. Denn Kunst wirkt weiter, in ihr ist das Vergangene ornamental zur Figur verwirkt und kann nicht mißbraucht werden als Ornament der Politik. HEIMATMUSEUM. Von Siegfried Lenz. Hoff mann und Campe Verlag, Hamburg 1978. 656 Seiten, öS 273,-.

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