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Mirabellen aus Bollerup

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Siegfried Lenz' „Geschichten aus Bollerup“ haben, bei großen Unterschieden, viel Gemeinsames mit seinem frühen Erzähiband „So zärtlich war Suleyken“, in dem er unvergleichlich jene masurdsche Landschaft, Atmosphäre und Lebensart beschwor, die sich übrigens unter polnischer Ägide wenig geändert haben, wie ich bei zwei Besuchen dort feststellen konnte.Bollerup, nördlich von Kiel gelegen, ist von anderer Art als das zärtliche Suleyken; deftiger und derber, vor allem moderner. Ein Dorf von heute, in seinen Gewohnheiten dem städtischen Leben weitgehend an-, geglichen.

Trotzdem, sagt Lenz im Vorwort, hat Bollerup etwas Besonderes: „eine eigentümliche Erlebnisfähigkeit und eine spezielle Art, auf Erlebtes zu reagieren“. Diese Originalität wird auf das Köstlichste in den zwölf Geschichten dieses Bandes ins Blickfeld gerückt. All die vielen Feddersens — die meisten Bewohner

Bollerups tragen diesen Namen — sind seltsame Käuze, deren wunderliche Einfälle und Eigenheiten Lenz humorvoll schildert. Bäuerliche Schläue und Unnachgiebigkeit auf Kosten der Nachbarn, aber auch naive, freundliche Lebensweisheit kommen zutage; wohlwollendes Miteinander neben abweisendem Eigennutz. Nicht zu vergessen der im Guten und Bösen wirksame Mirabellengeist, dem im Titel des Bandes gehuldigt wird. Ein amüsantes Buch mit tiefsinnigem Hintergrund. Für mich ist die letzte Geschichte „Der heimliche Wahlsieger“ die schönste, die zuerst zu lesen ich anraten möchte.

Lenz' großes Erzähltalent erweist sich in dem soeben publizierten Band „Einstein überquert die Elbe“, in dem 13 Geschichten aus den Jahren 1966 bis 1974 gesammelt sind. Neben von früher vertrauten Themen des Autors werden für unsere heutige Wirklichkeit wesentliche neue Problemkreise angeschnitten.

In der Titelgeschichte setzt Einstein durch unwägbare Signale für kurze Zeit naturwissenschaftliche und technische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Die Unsicherheit menschlicher Wahrnehmungen wird präsent, bis, nach seinem Verlassen der Fähre, auf der diese Begebenheiten geschehen, die Wirklichkeit wieder nach den uns vertrauten Regeln abläuft. „Geht so nicht einer ab, der selbst bestimmt, was eine Tatsache ist?“ heißt es am Ende der Geschichte.

Makaber die blendend aufgebaute Dialogszene „Herr und Frau S. in Erwartung ihrer Gäste“, die beider Vergangenheit entlarvt. Der Mann hat einen Toten zu Gast geladen, in dessen Hülle er geschlüpft ist, um eventuellen Vergeltungsmaßnahmen zu entgehen, die seine Division wegen ihrer Verbrechen im Ostfeldzug zu erwarten hat. Eine ebenso faszinierende wie erschreckende Version der Identität des Menschen und ihrer Vertauschbarkeit mit möglichen abgründigen Konsequenzen.

In der letzten Erzählung „Die Phantasie“ visiert Lenz die verschiedenen Möglichkeiten an, eine Geschichte zu erfinden und zu erzählen. Phantasie und Wirklichkeit werden zueinander in Bezug gesetzt. Der Autor bekennt sich zu der Überzeugung, daß die Realität nur mittels der Imagination zu erfassen ist. Es komme darauf an, „mit Hilfe der Phantasie die begrenzten Muster zu finden, in denen sich Wirklichkeit erschöpft“.

Es tritt etwas Schwebendes, Doppelbödiges zutage, nicht nur in den unerhörten Begebenheiten, sondern auch in den alltäglichen Ereignissen, die Lenz schildert. Zugleich sind alle diese Geschichten prall mit Wirklichkeit gefüllt, Wirklichkeit, wie Lenz sie versteht. Seine Einbil-dungs- und Gestaltungskraft halten einander die Waage. Er ist ein großer Erzähler.

EINSTEIN ÜBERQUERT DIE ELBE. Erzählungen. 311 Seiten. DER GEIST DER MIRABELLE. Geschichten aus Bollerup. 126 Seiten, von Siegfried Lenz. Beide Bände erschienen bei Hoffmann und Campe, Hamburg, 1975.

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