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Zweierlei Kino

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Georg Büchner hinterließ das Novellenfragment „Lenz", dem Büchner sich geistesverwandt fühlte; es behandelt den Aufenthalt dieses Predigersohnes und typischesten Vertreters der „Sturm-und-Drang"-Periode bei dem Pfarrer Oberlin im Elsaß, als sich die ersten Zeichen einer langsam zunehmenden Geisteskrankheit zeigten, bis Lenz von seinem Bruder zu den Eltern nach Riga geholt wurde. George Moorsie, 1936 in New York geboren, in Deutschland seit Jahren als Filmregisseur tätig („Lenz" ist bereits sein siebenter abendfüllender Spielfilm), verfilmte 1970 den Büchner-Text als ein Stück Chronik des 18. JahKhunderts, in einen beziehungsvollen Rahmen gestellt: im Prolog werden zeitgenössische Bilder und Stiche gezeigt, die Unterdrückung, Kolonialismus, Sklavenhandel, Fronarbeit darstellen — während im Epilog der Sieg der Französischen Revolution eine neue Zeit ankündigt. Und dazwischen die Studie eines Suchers, der in Schizophrenie endet, eingefangen in seine Welt wie die wirkliche um ihn. Trotz der Vorlage ist der Film jedoch kein literarischer geworden, auch keine Wort-Bild-Umsetzung etwa im Sinne der Thomas-Mann-Verfilmung Viscontis: alles ist Bild, seltsam künstlich stilisiert und verfremdet, doch von faszinierender Schönheit. Der Film ist unendlich ruhig und langsam komponiert — ein „Lied der Erde" nannte ihn der Regisseur — und schon nach wenigen Minuten ist der Zuschauer ergriffen, meint er wie in Trance in eine andere Welt hineinzuschreiten „zwischen Aufklärung, Pietismus, Sturm und Drang — eine wundersam weiche, leicht tauige Schneeluft und die Melancholie, die durch Jahrhunderte dringt". Die Szene auf dem Friedhof, in der Lenz über dem Grab von Friederike liegt — sie mag als Beispiel für die Schönheit eines seltsamen Films gelten, der fernab von jeder kommerziellen Spekulation den Kenner begeistern wird.

Ganz anders dagegen und für ein gänzlich anderes Kinopublikum ist „Die Höllenfahrt der Poseidon" gemacht worden, ein Kinothrill'er monströsen Ausmaßes und raffiniert berechneter Wirkung; dabei ist die Grundsituation urältestes Klischee jedes Bestsellers oder Erfolgsfilms: eine Gruppe verschiedener Menschen, sorgfältig vom Autor ausgewählte Charaktere und Typen natürlich, die sich in einer gefährlichen Ausnahmesituation zu bewähren hat... Nach diesem Muster gab es schon zahlreiche Flugzeugunfälle, Expeditionen oder U-Boot-Versenkungen — diesmal ist es ein Luxusdampfer, der bei einem Seebeben kentert und kieloben schwimmt, während ein Häuflein Wackerer (und Zauderer) im immer tiefer sinkenden Rumpf den Ausweg nach unten, in diesem Fall oben, suchen ... Knisternde Thrillerspannung, unterbrochen durch retardierende Ruhepausen (dramaturgisch bedingt, denn zwei Stunden Hochspannung wirkt ebenso langweilig und unerträglich wie zwei Stunden Ereignislosigkeit), technisch perfekt gestaltet und von einer Anzahl Oscar-Preisträger dargeboten: uraltes Kintopp in Luxusverpackung ...

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