Letzter Akt für Doktor Karadzic

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am Jugoslawien-tribunal steht das Urteil gegen den bosnisch-serbischen Ex-Präsidenten bevor. Der prestigeträchtige Prozess spiegelt den fragilen Zustand auf dem Balkan wider.

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am Jugoslawien-tribunal steht das Urteil gegen den bosnisch-serbischen Ex-Präsidenten bevor. Der prestigeträchtige Prozess spiegelt den fragilen Zustand auf dem Balkan wider.

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Es waren 497 Verhandlungstage, es wurden 565 Zeugen geladen, 11.000 Beweisstücke mit fast 80.000 Seiten Umfang angehäuft - diese Zahlen deuten die Stellung an, die der Prozess gegen Radovan Karadzic im Rahmen des Jugoslawien-Tribunals der Vereinten Nationen (ICTY) einnimmt. Karadzic, zwischen 1992 und 1996 Präsident der bosnisch-serbischen Republik und zugleich Hauptkommandeur ihrer Streitkräfte, musste sich in 11 Anklagepunkten verantworten, darunter Genozid in Srebrenica sowie anderen bosnischen Ortschaften, Mord, Deportationen, Geiselnahme und ungesetzliche Angriffe auf Zivilisten. Am nächsten Donnerstag wird in Den Haag das Urteil gegen Karadzic verkündet.

Die bemerkenswerte Arithmethik hat natürlich eine inhaltliche Entsprechung. Sichtbar wurde diese zuletzt, als im Herbst 2014 in der Verfahrenskammer III die Abschluss-Plädoyers gehalten wurden: Die Anklage forderte lebenslänglich, sieht sie doch Karadzic als Drahtzieher des Massakers von Srebrenica, der Belagerung Sarajevos und "treibende Kraft der Politik der ethnischen Säuberung". Der Angeklagte, sich nach wie vor für unschuldig haltend, räumte individuelle Verbrechen seitens der bosnisch-serbischen Armee ein, die er indes nicht angeordnet hätte. "Ich habe ein reines Gewissen, doch ein schweres Herz, denn der Krieg war nicht mein Wunsch", so Karadzic.

"Extrem komplex" nennt Serge Brammertz, der Chefankläger des Tribunals, im Rückblick den Prozess. Das Urteil wird das bislang prestigeträchtigste des ICTY, nachdem Slobodan Milosevic 2006 vor dem Abschluss seines Falls an einem Herzinfarkt verstarb. Das Verfahren gegen den bosnischserbischen Kommandanten Ratko Mladic läuft noch bis Ende 2017. Die Einschätzung Brammertz' bezieht sich nicht nur auf Aktenberge und Zeugenaussagen: Zumal zu Beginn war der Karadzic-Prozesses geprägt von Unterbrechungen, Abwesenheit des Angeklagten und dessen Beschwerde, ihm werde ein faires Verfahren verweigert.

Rechenschaft für Kriegsverbrechen

Chefankläger Brammertz weist den Vorwurf entschieden zurück: Karadzic, der sich in Den Haag selbst verteidigte, habe dazu ausreichend Gelegenheit bekommen und Hunderte Zeugen befragt. Zudem habe es vor dem Tribunal Fälle gegeben wie den von Momcilo Perisic, dem in Berufung freigesprochenen Kommandeur der serbischen Armee, bei dem die Zweifel an der Verantwortlichkeit des Angeklagten verständlich seien. Im Fall Karadzic treffe dies nicht zu. "Absolut überzeugt" ist Brammertz, dass das Tribunal einen erheblichen Beitrag zur Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen geleistet habe.

Zugleich ist er Realist genug, die Fragilität zu sehen, die die Nachkriegsgesellschaften des Ex-Jugoslawiens weiterhin prägen. Für die Arbeit des ICTY bilden sie einen durchaus prekären Rahmen: "Manche Menschen in der Region denken, das Tribunal gefährde den Frieden eher. Immer wenn in Den Haag ein Urteil gefällt wird, freut sich die eine Gruppe, und die andere ist wütend." Unumwunden gibt Brammertz zu, die politische Kultur des Nationalismus in den Nachfolgestaaten unterschätzt zu haben. "Wie wollen wir vorankommen, solange es in Bosnien drei Geschichtsbücher gibt?"

Wer den fünfjährigen Prozess in Den Haag verfolgte, wurde in der Tat immer wieder auf seine politischen Hintergründen zurückgeworfen. Der Propagandagehalt von Karadzic' Narrativ vom kleinen, bedrohten serbischen Volk, dessen heroischer Verteidigung er sich verschrieben habe, war dabei offensichtlich. Doch gab es dieses Leitmotiv nicht bei allen Konfliktparteien in der Spätphase Jugoslawiens und der fatalen Dynamik seiner ethno-nationalistischen Zentrifuge? Wie also lässt sich in diesem Dickicht aus Fakten, Mythen und Deutungen eine vermeintlich objektive Wahrheit etablieren?

"Es gibt keinen Disput darüber, dass 1992 in vielen Ortschaften Bosniens Menschen vertrieben wurden", sagt der Anwalt Peter Robinson, der Karadzic während des Verfahrens in Den Haag beriet und begleitete. "Aber bei Kriminalfällen geht es um Absichten. Die Frage ist also: war es beabsichtigt, die bosnischen Muslime als ethnische Gruppe zu zerstören und vom Erdboden zu vertilgen?" Was seinen Klienten anbelangt, nuanciert Robinson zumal beim Thema Srebrenica. "Sicherlich war er beteiligt an der Entscheidung, Srebrenica einzunehmen. Aber dass Gefangene exekutiert würden, war etwas, in das er absolut nicht involviert war und das er nicht wollte."

Zwei Wochen vor dem Urteil ist Robinson bezüglich Karadzic' Aussichten nicht sonderlich zuversichtlich. "Ich denke, dass das institutionelle Interesse ihn verurteilt zu sehen zu groß ist. Der Gerichtshof wurde gegründet um diejenigen, die während des Kriegs im früheren Jugoslawien in den höchsten Positionen waren, zur Verantwortung zu ziehen. Da scheint es unvorstellbar, dass sie ihn nicht verurteilen. Das würde als ein riesiges Versagen gesehen werden." Karadzic dagegen, so Robinson, sei optimistisch. "Er denkt, wenn dies ein richtiger Gerichtshof ist, werden sie seine Unschuld sehen."

Die Version des Radikalen

In diesem Licht sieht Robinson auch Karadzic' Entscheidung sich selbst zu verteidigen. "Sein Ziel war es seine Version der Geschichte zu erzählen. Und das kann er besser, wenn er dazu an jedem Tag des Verfahrens Gelegenheit hat, statt nur für ein paar Wochen während der Zeugenaussagen. "Wenn man also sieht, was in seinem Fall möglich war und was seine Ziele waren, war es eine vernünftige Entscheidung. Kein Anwalt kann ihm hier einen Freispruch verschaffen." Sicher ist sich Robinson unterdessen, dass es im Fall Karadzic wie in den meisten vor dem Jugoslawien-Tribunal Berufung geben wird. "Entweder seitens der Verteidigung, der Anklage oder von Beiden."

Wie auch immer das Urteil aussehen wird: Angesichts der aktuellen Weltlage wirkt das, was in Den Haag verhandelt wird, seltsam antiquiert. Als der Gerichtshof gegründet wurde, diskutierten Politologen ernsthaft über ein "Ende der Geschichte" und die westliche liberale Demokratie galt als künftige globale Staatsform. Wenige mochten in diesem Triumphgefühl den Jugoslawien-Krieg als Vorboten von Konflikten wahrnehmen, die sich auf Europa zubewegen. Heute lächelt Chefankläger Brammertz ein wenig gequält, wenn er von der "Hoffnung spricht, "die Welt könnte durch internationale Justiz sicherer werden". Die zur Urteilsverkündung zahlreich erwarteten internationalen Medien sind ein ferner Widerschein dieser Hoffnung.

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