Ein Kinderschreck im Bücherschrank

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Eine preiswerte Nietzsche-Gesamtausgabe, Gedichte und Materialien über das Leben eines übersensiblen Machtanbeters.

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Eine preiswerte Nietzsche-Gesamtausgabe, Gedichte und Materialien über das Leben eines übersensiblen Machtanbeters.

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Vor hundert Jahren, am 25. August 1900, starb Friedrich Nietzsche, der ein Schreck meiner Kindheit war. Ich fand ihn mit eingefallenen gelben Gipswangen und beängstigendem Schnauz beim Graben im Bücherschrank meines längst verstorbenen Großvaters, wo ihn der großdeutsch denkende Onkel deponiert hatte. Ich stürzte zur Großmama, erfuhr, das sei die Totenmaske vom Nietzsche, ich möge sie in Ruhe lassen, der Onkel würde explodieren, wenn ich sie ihm zerbrach. Die Warnung war unnötig. Totenmaske, das Wort löste Wellen grässlicher Assoziationen aus, ich stand mit Klappererkarl & Co. auf keinem guten Fuß. Der riesige Bücherschrank mit dem unter Nietzscheanern weit verbreiteten Abguss der Totenmaske blieb noch lang Tabuzone.

Der Kinderschreck im Bücherschrank mag an meinem distanzierten Verhältnis zu Nietzsche mitschuldig sein. Noch mehr freilich die Selbstverständlichkeit, mit der wir ihn nach 1945 mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachten. Das Thema Nietzsche und die Nazis (oder umgekehrt) wurde damals vielleicht etwas vereinfacht, aber doch nicht allzu sehr, wenn man an die Untersuchung "Nietzsche und der Faschismus" von Bernhard H. F. Taureck denkt (furche 26/2000, Dossier). Der 100. Todestag bietet jedem Gelegenheit, sein Nietzsche-Bild zu überprüfen.

So liegt die ab 1967 bei de Gruyter herausgebrachte Kritische Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari als Taschenbuch-Kassette wieder vor. Nietzsche aus erster Hand: Wir begegnen einem Denker, an dem einiges imponieren kann. Der Mut, mit dem er gegen Autoritäten andenkt und anschreibt. Die Selbstsicherheit, mit der er seinen Weg geht, überzeugt, seiner Zeit weit voraus zu sein. An die Inhalte dieses Denkens dürfen wir dabei nicht denken. Zu den Tabus, gegen die er anrennt, zählt die Humanität, zählen alle Hemmungen, die der Mensch des Menschen Wolf mühsam in den Weg zu legen versuchte. Konnte, wollte er sich den Fall dieser Hemmungen nicht ausdenken? Für seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die sich mit ihrem Archiv den Nazis andiente, konnte er natürlich nichts.

Trotzdem bewahrheitete sich 1933 sein starker Spruch auf grausige Weise: "Ich selber bin noch nicht an der Zeit. Einige werden posthum geboren." Mit gutem Recht prangt er als Motto von "Friedrich Nietzsche - Chronik in Bildern und Texten" des Hanser-Verlages, die ebenfalls bei dtv günstig als Paperback vorliegt. Hier kann man Kurt Tucholskys berühmter Vermutung nachgehen, da habe einer mit einem Bizeps aus Gips geprahlt und mit dem, was ihm fehlte, geprotzt. Einer, der aus der Sehnsucht nach der Peitsche eine Weltanschauung machte. Wer anhand dieser gut redigierten, bebilderten Chronik die Annahme überprüft, Nietzsche, der Anbeter der Macht und Gewalt, sei vor allem ein starker Fall von Überkompensation gewesen, gelangt vielleicht zur einen oder anderen Relativierung, aber zu keiner überzeugenden Falsifizierung.

Bleibt der Dichter, auf den viele nichts kommen lassen. Ralph-Rainer Wuthenow gab, elegant, ästhetisch, handlich wie alles bei Manesse, "Sämtliche Gedichte" heraus. Hier finden sich die Zeugnisse einer auch formal innovativen Hochbegabung, die Goldkörner im Nietzsche-Gebirge: "Nah hab' den Nächsten ich nicht gerne: fort mit ihm in die Höh' und Ferne! Wie würd' er sonst zu meinem Sterne?" Und eines oft präzise zubeißenden Sarkasmus: "Kam, trotz schlumpichtem Gewande, einst der Deutsche zu Verstande, weh, wie hat sich das gewandt! Eingeknöpft in strenge Kleider, überließ er seinem Schneider, seinem Bismarck - den Verstand!"

Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.) Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 15 Bände, Tb., öS 1.445,-/e 105,01 Friedrich Nietzsche, Chronik in Bildern und Texten. Stiftung Weimarer Klassik bei Hanser. dtv, München 2000, 856 Seiten, viele Bilder, Pb., öS 350,-/e 25,44 Friedrich Nietzsche, sämtliche Gedichte. Hg.: Ralph-Rainer Wuthenow, Manesse Verlag, Zürich 1999, 262 Seiten, Ln., öS 278.-/e 20,20

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