Nachrichten aus der russischen Provinz

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Maxim Ossipow zeigt in seinen Erzählungen dramatisches Talent und überrascht mit unerwarteten Wendungen.

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Maxim Ossipow zeigt in seinen Erzählungen dramatisches Talent und überrascht mit unerwarteten Wendungen.

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Kardiologen kennen vielleicht seinen Namen. Der russische Schriftsteller Maxim Ossipow wurde 1963 in Moskau geboren, er studierte Medizin, ehe er sich, wie Tschechow und Bulgakow vor ihm, der Literatur und hier besonders dem Drama und der Erzählung zuwandte. Nach einem Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten gründete Maxim Ossipow Mitte der Neunzigerjahre einen Wissenschaftsverlag für medizinische Fachliteratur und entschied sich schließlich für beides: In all den Jahren seiner literarisch-publizistischen Tätigkeit ist er seinem Fach, der Kardiologie, treu geblieben. Am Beginn der Putin-Ära hat sich Ossipow schließlich in die russische Provinzstadt Tarussa zurückgezogen und dort in der örtlichen Klinik ein kardiologisches Zentrum eingerichtet. Diese Neuerung, getragen von Spendengeldern und Engagement, wurde prompt Opfer lokaler Intrigen, offenbar eine Reaktion, mit der sich jeder herumschlagen muss, der das System -und sei es mit den edelsten Absichten -herausfordert.

Häftlinge und Künstler

Tarussa ist allerdings kein ganz gewöhnlicher Ort: 105 Kilometer von Moskau entfernt, liegt die alte russische Stadt an der Oka gerade richtig für politische Häftlinge, die in Sowjettagen von der Hauptstadt mehr als hundert Kilometer Abstand halten mussten. Selbst, als sie ihre Haft schon abgesessen hatten und somit eigentlich ins zivile Leben zurückkehren durften. Allerdings eben nicht in die Hauptstadt und damit nicht nach Moskau.

Im 19. Jahrhundert blühte in Tarussa eine Künstlerkolonie, die Familie der russischen Dichterin Marina Zwetajewa hatte hier ein Sommerhaus, der Pianist Swjatoslaw Richter oder der Regisseur Andrej Tarkowski haben hier Erholung gesucht. Der Urgroßvater von Maxim Ossipow, ebenfalls Arzt und in den Dreißigerjahren ein Opfer von Stalins ersten Ärzteprozessen, war hierher nach Tarussa aus dem Gulag zurückgekehrt. Tarussa ist urrussisch, aber nicht hinterwäldlerisch. Es ist damit der Punkt bezeichnet, von dem aus Maxim Ossipow seinen literarischen Kosmos vermisst.

Der Erzählband "Nach der Ewigkeit" umfasst zehn Erzählungen und eine kurze Einleitungsgeschichte. Die Texte sind meist datiert und wurden demnach zwischen 2010 und 2016 abgeschlossen: Sie handeln von Ärzten, Priestern und Theaterleuten, von Kabalen in der Provinz. In ihnen schwingt die große Ernüchterung einer Epoche mit, die von einer ausweglosen Situation in die nächste geraten ist.

Wenn man Ossipows Theaterstücken nachsagt, sie wollen zu viel, seien zu lang und zu wortlastig, so spürt man in seinen Erzählungen doch ein starkes dramatisches Talent. In seinen Texten droht man leicht, den Boden unter den Füßen zu verlieren, überrascht der Autor mit unerwarteten Wendungen; anekdotische Einschübe lassen den Leser fragen: Wo bin ich, was wird mir da überhaupt erzählt, in welche Geschichte bin ich da geraten? Das macht die Lektüre interessant und korrespondiert mit dem Lebensgefühl der jüngeren Vergangenheit. Die staatlich verordnete Kraftmeierei kann ja nur mit Mühe die realen und meist sehr fragilen Verhältnisse überdecken. Immer wieder führen biografische Spuren zurück in eine Zeit, für die man schwer die richtigen Worte findet und deren Bannkreis man noch lange nicht entkommen ist.

"Es war einmal ein Geistlicher, der hatte einen Hund ...", so beginnt (und endet) eine der besten Erzählungen in diesem Band. Natürlich, der Hund wird sterben und der Geistliche nur knapp überleben, aber hier entfaltet Ossipow auf nur wenigen Seiten ein Weltbild, wie das in dieser Kürze und in dieser Tiefe sonst nur die Meister der russischen Erzählkunst (etwa Tschechow oder Bunin) zuwege bringen. Ossipow hat sein Handwerk gelernt: Zum einen weiß der Kardiologe, was ein Herzinfarkt ist und wie es in russischen Spitälern aussieht, zum anderen entwickelt der scharfblickende Diagnostiker eine durchaus typische Biografie eines modernen russischen Intellektuellen, Stand Oktober 2012.

Neuer Blick aufs Land

Maxim Ossipow hat in den Vereinigten Staaten studiert und das Thema Emigration ist für ihn wie für seine Zeitgenossen immer virulent: Autoritäre Systeme haben es an sich, von denkenden Menschen als unerträgliche Fessel wahrgenommen zu werden. Der Verkauf von Rohstoffen ist keine intellektuelle Herausforderung. Wer mehr, wer anderes will, muss anderswo sein Glück versuchen. In der Erzählung "Cape Cod" macht sich also ein talentiertes russisches Paar auf den Weg. Die beiden sind erfolgreich, halten Kontakt mit der Heimat und alten Freunden und assimilieren sich rasch. Nur soviel sei verraten: Die Geschichte hat eine traurige Pointe. Dass die Erzählung mit Michail Lermontows "Ein Held unserer Zeit" motivisch unterlegt ist, erhöht den Reiz des Textes, der wie eine Variation auf die Lermontow'schen Zeilen klingt: "Betrübt seh' ich auf unsere Generation! Denn ihre Zukunft - sie ist düster oder leer!"

Die Fixierung auf die Hauptstadt verstellt gerne den Blick auf die russische Provinz. Sicher, die großen kulturpolitischen Schlachten (siehe den Hausarrest für den Regisseur Kirill Serebrennikow) werden in Moskau geschlagen, aber die Stimmen aus der Provinz sind immer auch ein Menetekel. Vielleicht erinnert sich noch jemand an den Autor und Filmemacher Wassili Schukschin, an den Autor der sogenannten Dorfprosa Walentin Rasputin, an den kasachischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow. Gute Autoren, die heute fast völlig vergessen sind. Sie waren populär, weil sie einen neuen Blick auf das Land boten: Tarussa ist nicht Russland, aber es ist ein Alternative!

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