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Kelsen gegen Marx

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SOZIALISMUS UND STAAT. Hans Kelsen. — Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 8. Aufl., eingeleitet und herausgegeben von Norbert Leser, Verlag der Wiener Volksbuchhandlungen, Wien 1965, 176 Seiten, Paperback, S 52.—.

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SOZIALISMUS UND STAAT. Hans Kelsen. — Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 8. Aufl., eingeleitet und herausgegeben von Norbert Leser, Verlag der Wiener Volksbuchhandlungen, Wien 1965, 176 Seiten, Paperback, S 52.—.

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Die grundsätzlich ideologiefeindliche Sprengkraft der Gedankengänge Hans Kelsens auf dem Sektor der Rechtswissenschaft sind schon längst zum festen Bestandteil der Rechtslehre geworden, ja die „Reine Rechtslehre“ wird vielfach als die größte Leistung der Jurisprudenz im 20. Jahrhundert gepriesen. Aber Kelsen als Ideologiekritiker auf dem Gebiet, wo Philosophie und Staatslehre, Soziologie und Geschichte einander überschneiden, also auf dem Gebiet der Politikwissenschaft, ist nur wenig bekannt.

Kelsen beginnt seine Auseinandersetzung mit der politischen Theorie des Sozialismus im allgemeinen und des Marxismus im besonderen mit einer Kritik an der Methode des Marxismus. Nach Kelsen besteht ein systemimmanentes Spannungsver- hältnis zwischen dem marxistischen Evalutionismus, der Konsequenz der wertfrei sein wollenden Soziologie des Marxismus, und dem marxistischen Revolutionismus, der Konsequenz des sittlichen Pathos der marxistischen Wertvorstellungen. Eine Vermengung von Sein und Sollen, von Beobachten und Wollen ist die Folge dieser Methodenunreinheit. Kelsen glaubt daher der Marx- schen Soziologie nicht deren Wertfreiheit und sieht in den „naturwissenschaftlichen“ Methoden des Marxismus „verkapptes Naturrecht“.

In der Prophetie eines goldenen Zeitalters der Aufhebung aller Klassengegensätze, in der Auslöschung jeglichen „politischen“ Charakters der öffentlichen Gewalt, tn der Auflösung des Staates als Zwangsordnung — alles unter Ausschaltung außerwirtschaftlicher (zum Beispiel religiöser) Affekte — sieht Kelsen „das Schulbeispiel einer .unwissenschaftlichen’. weil nicht auf Erfahrungstatsachen gestützten Utopie“. Hier werden zwei „Seelen“ des Marxismus einander gegenübergestellt, die staatssozialistische und die anarchistische. Zwischen der Staatsauffassung Marx’ und Engels’ und der des Anarchismus besteht kein prinzipieller Unterschied.

Wenn im Streit zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie sich beide Seiten auf Marx berufen, so wird nach Kelsen Marx von Lenin, der das Absterben des zukünftigen Staates unterstreicht, richtig interpretiert. Die Sozialdemokraten sind aber dann „marxistischer“, wenn sie im Gegensatz zu Lenin in Betonung des evolutioni- stischen Kernes des Marxismus sich auf den Boden der Demokratie stellen. Daß aber über die Staatsauffassung des Marxismus noch so viele Unklarheiten bestehen, ist nur eine Folge davon, daß Marx, der klar und kühn formulierende, unerbittliche Richter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sich dann in einem Nebel vager Utopie verliert, wenn er über die kommunistische Endgesellschaft schreibt.

Allen Einwänden gegenüber der Kritik Kelsens, dieser hätte mit den Kategorien seines juristischen Staatsbegriffes und damit von einer grundsätzlich anderen Ebene aus den politischen Staatsbegriff des Marxismus beurteilt, beweist nach Ansicht des Rezensenten allein der berühmte Satz von Engels, die klassenlose Gesellschaft versetze „die ganze Staatamaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt“, die Richtigkeit von Kelsens Argumentation, der marxistische Staatsbegriff sei ein anarchistischer. Bereits 1920 berief sich Kelsen auf Renner und Bernstein, Cunow und Kautsky und führte aus, in der Praxis müsse sich der demokratische Sozialismus von der marxistischen Staatsauffassung ab- und Lassalle zuwenden. Kelsen schloß 1920 mit der Aufforderung: „Zurück zu Lassalle“. Heute kann Norbert Leser feststellen, „daß in der Staatslehre Lassalle den Sieg über Marx davongetragen hat“.

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