Suche nach irdischer Glückseligkeit

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Mit Frank Castorfs im mehrfachen Wortsinn monumentaler Dramatisierung des russischen Romans "Tschewengur" von Andrej Platonow (1899 -1951) eröffneten am vergangenen Freitag die Wiener Festwochen: Eine Zumutung, die viel bietet.

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Mit Frank Castorfs im mehrfachen Wortsinn monumentaler Dramatisierung des russischen Romans "Tschewengur" von Andrej Platonow (1899 -1951) eröffneten am vergangenen Freitag die Wiener Festwochen: Eine Zumutung, die viel bietet.

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Am Anfang der Festwochenausgabe 2016 steht eine Überforderung. Das ist allerdings weniger dem Umstand geschuldet, dass die Eröffnungsproduktion fast fünfeinhalb Stunden dauert, das ist der Festwochenbesucher von Frank Castorf seit Jahren gewohnt. Nein, die Überforderung durch "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen" ist vor allem inhaltlich und erzähltechnisch bedingt.

Road-Movie, Melodram, Ballet, Oper

Castorf dekonstruiert zum einen in gewohnter Manier den Text wie auch die genuin theatralischen Darstellungsformen, mischt sie virtuos mit verschiedenen Ausdrucksebenen, unterlegt die Szenen mit Musik (viel Schostakowitsch, ein wenig Rolling Stones), so dass ein Hybrid aus Road-Movie, Melodram, Ballet und gar Oper entsteht. Das Geschehen ist wie immer gefilmt auf großen Leinwänden zu beobachten, häufig gleichzeitig als reales Bühnengeschehen und als projiziertes Videobild. Zum anderen ist nur schwer auszumachen, worum es in dieser am Stuttgarter Schauspielhaus erarbeiteten Inszenierung eigentlich genau geht.

Immerhin lässt sich das Geschehen historisch ziemlich genau verorten. Die Zeit der Handlung ist das postrevolutionäre, kommunistische Russland -wie im ob seiner lyrischen Sprachmächtigkeit in Dichterkreisen hoch angesehenen Roman aus den frühen 1930er-Jahren, der von der sowjetischen Zensur wegen Nichteinhaltung der normativen Regelpoetik des sozialistischen Realismus und dessen angeblich sozialismuskritischen Tendenz unterdrückt wurde.

Allerdings fragt sich der Zuschauer sogleich, warum gerade eine Erzählung über das Scheitern der kommunistischen Idee heute für uns interessant sein soll. Es gehört ebenso zu Castorfs assoziativem Theater, dass sich über die Bilder und Schicksale der konkret gezeigten Zeiten und Menschen hinaus für den Zuschauer klären kann, was das mit uns heute zu tun hat.

Die Handlung geht ungefähr so: Aus einer Art Ungeduld des Lebens, weil eben die Folgen der Revolution noch immer spürbar sind, machen sich zwei Dauernörgler mit Namen Kopjonkin und Dwanow, durchaus Verwandte von Don Quijote und Sancho Panza, "mit offenem Herzen" auf die Suche nach dem kommunistischen Paradies. Das ist in ihrer optimistischen Vorstellung jene Gesellschaftsform, in der Arbeit, Hunger, Krankheit und sogar der Tod von der Parteibürokratie kontrolliert und das heißt in ihrem naiven Glauben abgeschafft worden sind. Tschewengur heißt der kommunistische Sehnsuchtsort irgendwo in den Weiten der russischen Steppe, wo die Revolution gesiegt und sich der real existierende Sozialismus bereits verwirklicht haben soll.

Der vom Staatsapparat verordnete Optimismus hält selbstredend nicht lange, denn dieses Paradies ist auf Erden nicht zu haben. Weil auch dort Hunger und Not die Menschen fest im Griff haben, der neue Mensch und der wahre Kommunismus auf sich warten lassen und immer noch viel gestorben wird, weicht die Suche nach dem Glück, dem Mitgefühl, der Liebe und einem besseren Leben einer resignativen, melancholischen Grübelei oder einer überbordenden Wut.

Großartiges Stuttgarter Ensemble

Offenbar geht es Castorf darum, diese Wut über die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Verheißung, Rausch und Ernüchterung, den Stillstand der Zeit auszudrücken. In Form von hysterischen Arien bellen die großartigen Darsteller des Stuttgarter Ensembles das menschliche Leiden an der Unvollkommenheit ins Publikum. Platonows verdichtete Sprache changiert virtuos zwischen Parteijargon, Wissenschaftsterminologie und poetischen Metaphern, so dass sich gleichsam von innen Sinn in Unsinn, Utopie in Antiutopie verkehrt und Tragik in Komik, Ernst in Ironie umschlägt, und trägt zur Überforderung bei.

Spektakulär ist auch die Dreh-Bühne von Aleksandar Deni´c. Auf den ersten Blick erinnert sie an eine konstruktivistische Riesenskulptur á la Tatlin, erweist sich in der Folge aber als allegorischer Abenteuerspielplatz, samt Windmühle mit aufgeklebten Rosa-Luxemburg-Porträt, einer Lokomotive, deren mächtiger qualmender Schornstein die Form eines Zwiebelturms hat und in der ein orthodoxes Kreuz steckt, einer ärmlichen Bretterbude, ein von einem Gulag-Zaun umgebener Parkplatz mit Wassertrog und Cola-Automat.

Castorfs Zumutung ist lang, aber bietet viel: Eine Parodie darauf, wie Menschen sind und wie sie sein wollen, eine Groteske über das Auseinanderklaffen von Idee und Wirklichkeit, ein Stück über das Aufbegehren gegen den Skandal der Sterblichkeit, ein Abgesang auf Zukunftsutopien? Der Meister hat reichlich aufgetischt, und jeder kann nehmen, was seine Assoziation ihm gestattet.

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