"Ich hätte sicher auch geblufft“

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Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über die Entschädigung für den Kindesmörder Magnus Gäfgen und die Absolutheit des Folterverbots.

Es ist der 27. September 2002, als es in Frankfurt zu einem abscheulichen Verbrechen kommt: Der damals 26-jährige Magnus Gäfgen entführt den elfjährigen Jakob von Metzler, Sohn einer ihm gut bekannten Bankiersfamilie, verschließt ihm Mund und Nase mit Klebeband und erstickt ihn. Dann erpresst er von den Eltern eine Million Euro, wird jedoch bei der Geldübergabe von der Polizei verhaftet. Als er sich im Verhör weigert, über den Verbleib des Buben Auskunft zu geben, weist der damalige Frankfurter Vizepolizeipräsident Wolfgang Daschner die Beamten an, Gäfgen "unerträgliche Schmerzen“ anzudrohen, was Daschner selbst in einer Aktennotiz festhält. Im folgenden Prozess wird Gäfgen zu lebenslanger Haft verurteilt. Daschner und ein Polizeibeamter werden wegen Nötigung angeklagt, schuldig gesprochen und verwarnt.

Seitdem prozessiert der Jusstudent Gäfgen bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er verlangt 10.000 Schmerzensgeld, weil er wegen der "Folterdrohung“ unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom leide. Vergangene Woche hat das Landgericht Frankfurt dem mittlerweile 35-Jährigen eine Entschädigungszahlung von 3000 Euro zugesprochen - und damit eine hitzige Diskussion ausgelöst. Während manche Leitartikler das Urteil prinzipiell begrüßen, weil der Staat auch abscheulichen Verbrechern nicht mit Folter drohen dürfe, fordert der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel in Extremfällen Ausnahmen vom absoluten Folterverbot.

Die Furche: Herr Professor Merkel, was sagen Sie zum Urteil, Magnus Gäfgen 3000 Euro Entschädigung zuzusprechen?

Reinhard Merkel: Wenn man annimmt, dass die Androhung von Schmerzzufügung gegenüber Gäfgen rechtswidrig war, dann ist dieses Urteil nur konsequent. Eine andere Frage ist, ob die seinerzeitige Verurteilung des Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner wegen Nötigung durch das Landgericht Frankfurt wie auch später durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte richtig war. Und ich sage: Nein. Beide Entscheidungen waren falsch.

Die Furche: Warum?

Merkel: Das wichtigste Argument lautet: Herr Daschner hat nicht gefoltert! Er hat genötigt, und diese Nötigung hat stattgefunden im Kontext einer unmittelbaren Notwehr gegenüber einem Angreifer, der aus Daschners Sicht gerade dabei ist, ein Kind zu töten.

Die Furche: Sie bezeichnen die Androhung "unerträglicher Schmerzen“ als Nötigung. Man kann auch psychische Folter dazu sagen …

Merkel: Das kann man nicht. Natürlich kann die Androhung von Folter selbst schon psychische Folter sein. Wenn Sie einer Frau sagen, entweder du gibst zu, dass du mit dem Teufel ein Verhältnis hast, oder wir foltern dich, und wenn du es zugegeben hast, dann setzen wir dich auf den Scheiterhaufen, dann ist schon die Androhung von Folter eindeutig Folter. Aber die Nötigung, die einem Mörder im Moment der Mordtat in den Arm fallen will, ist keine Folter, sondern staatlicherseits sogar geboten.

Die Furche: Wie das?

Merkel: Ich spreche jetzt auch als Ethiker und nicht nur als Jurist: Wenn ich in der Situation des Herrn Daschner gewesen wäre, dann hätte ich sicher nicht foltern können. Aber ich hätte sicher wie er geblufft. Ich hätte zum Täter gesagt: "Wenn Sie nicht sagen, wo das Kind ist, lass’ ich Ihnen schwere Schmerzen zufügen, bis Sie es sagen. Ich weiß, dass das verboten ist, und ich weiß, dass ich mich strafbar mache. Doch das nehme ich auf mich!“ Zu diesem Bluff hätte ich mich moralisch verpflichtet gefühlt, um ein Menschenleben zu retten. Wer dieses moralische Problem nicht einmal sieht, wie unsere veröffentlichte Meinung in Deutschland, dessen Ethik ist mir unheimlich.

Die Furche: Das Frankfurter Gericht hat sein Urteil folgendermaßen begründet: "Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden, mag er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen die Werteordnung der Verfassung vergangen haben.“

Merkel: Das ist absolut richtig. Das Recht auf Würde ist jedem Mörder, jedem Massenmörder, jedem Hitler in jeder Situation seines Lebens zu garantieren. Aber einen Täter im Moment des Mordunternehmens zu stoppen - noch dazu ohne Gewalt -, tangiert seine Menschenwürde nicht im Entferntesten! Wenn man begonnen hätte, ihn wirklich zu foltern, dann wäre die Menschenwürde tangiert gewesen. Zugleich ist das ein schweres Dilemma, denn zu sagen, dass auch in der Notwehrsituation die Zufügung schwerer Schmerzen absolut verboten bleibt, führt dazu, dass dem potenziellen Mordopfer sein Verteidigungsrecht entzogen wird. Außerdem ist tödliche Notwehr seit eh und je erlaubt. Wir haben jedes Jahr rund 50 vorsätzliche, gezielte Tötungen in Deutschland, die als Notwehr gerechtfertigt sind.

Die Furche: Sie gelten als Erfinder des Begriffs "Rettungsfolter“ …

Merkel: Ich habe immer von "Notwehrfolter“ gesprochen. Unter Rettungsfolter könnte man sich auch jenes Szenario vorstellen, bei dem ein Terrorist eine Atombombe unter Berlin vergraben hat und sie zu zünden droht. Und weil man ihn nicht greifbar hat, aber sein fünfjähriges Kind, droht man öffentlich übertragene Folter gegenüber diesem Kind an, um drei Millionen Berliner zu retten. Doch das ist selbstverständlich absolut indiskutabel! Ich darf niemals jemand Unschuldigen foltern, auch nicht, um Millionen zu retten.

Die Furche: Die Interpretationen von Notwehr gehen weit auseinander. Die Bush-Administration hat "verschärfte Verhörmethoden“ wie Waterboarding (simuliertes Ertrinken) eingesetzt, um das Land vor "Terroristen“ zu schützen …

Merkel: Was in Guantánamo geschehen ist, hat nichts mit Notwehr zu tun und ist ein Schandfleck für Amerika und die westliche Werteordnung. Natürlich dürfen auch Staaten zur Notwehr greifen, allerdings laut Artikel 51 der UN-Charta nur als Reaktion auf einen unmittelbar gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff und nicht als Reaktion auf eine diffuse Gefahr durch irgendwelche "Schurken“. Ich nenne das übrigens "Präventionsfolter“, die - genauso wie die frühere "Beweiserhebungs-Folter“ an vermeintlichen Hexen oder die "Bestrafungsfolter“, also grausame Hinrichtungsarten - völlig indiskutabel ist. Auch die Notwehrfolter ist ein Problem. Aber wer dieses Problem nicht einmal fühlt, ist mir gespenstisch.

Die Furche: Die öffentliche Meinung haben Sie wohl hinter sich: Das Frankfurter Urteil hat weitgehend Irritationen ausgelöst …

Merkel: Vielleicht habe ich "die Stammtische hinter mir“, wie mir einer gesagt hat. Aber es geht mir um die veröffentlichte Meinung, die von einer Mischung aus Ignoranz und Feigheit gekennzeichnet ist. Diese Feigheit geht mir im Innersten gegen den Strich. Ich verstehe ja, dass allein der Begriff "Folter“ einen Pawlow’schen Reflex auslöst. Ein folternder Staat ist etwas Scheußliches. Aber deswegen muss man es sich trotzdem zumuten, die Dinge zu differenzieren. Notwehr ist nicht irgendein Recht, sondern, wie Immanuel Kant gesagt hat, das allererste Menschenrecht. Außerdem: Steigen wir eine Sekunde aus dem wirklichen Fall aus und stellen wir uns vor, Herr Daschner hätte mit seiner Drohung in letzter Sekunde das Leben des unter der Erde vergrabenen Kindes gerettet, wie es auch im Film "Dirty Harry“ vorkommt. Er wäre ein nationaler Held gewesen. So wurde er ein Untermensch.

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