Die Invasion der ZukunFt

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Seit einer umstrittenen Abstimmung vor einem Jahr ist die Krim ein Teil Russlands. Doch die Lage der Menschen dort hat sich nicht verbessert.

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Seit einer umstrittenen Abstimmung vor einem Jahr ist die Krim ein Teil Russlands. Doch die Lage der Menschen dort hat sich nicht verbessert.

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Neurussland ist eigentlich gar nicht neu, sondern sehr, sehr alt. Vor mehr als 200 Jahren wurde es schon geboren. 1783, als General Grigori Potemkin auf seinem Eroberungsfeldzug für Zarin Katharina die Krim eroberte und dabei die Dörfer der Tataren brandschatzen ließ. Das "wilde Feld" der goldenen Horde wurde so zu einer Brachfläche der russischen Kultur eingeebnet, eine Brachfläche, die man nun mit den schönsten zivilisatorischen Träumen befüllen konnte. Paläste, Städte, Kasernen und Häfen -die später den Brückenkopf zur Eroberung von Konstantinopel bieten könnten. Dass Potemkin der Zarin bei ihrer Inspektionsreise nach Neurussland mit zahlreichen Herrschern Europas die eine oder andere Fassade hinstellte, wo davor und danach höchstens Ruinen waren, wer sollte ihm denn das verdenken? Die Zarin selbst wünschte es sich doch so sehr. Und schließlich: Ein jedes Projekt braucht seinen Vorhang. Da hält es die Politik wie das Theater. Bis heute ist das so. Wie heißt es doch so schön in dem Song, der jüngst die Charts eroberte: "Die Welt ist was Gemachtes."

Neurussland ist zurück

An Potemkin und seine Zarin kann man sich heute unfreiwillig erinnern, da Neurussland als Begriff auf die politische Tagesordnung zurückgekehrt ist -und zwar im Range der schwersten politischen Krise zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges 1989. Neurussland ist nun nicht mehr nur die Krim, sondern auch Donezk und Lugansk -also Städte und Regionen, die bis vor kurzem Teil der Ukraine waren. Die Krim jedenfalls ist heimgekehrt zum alten Zarenreich, das heute das Imperium Wladimir Putins ist. Genau vor einem Jahr, am 16. März 2014, votierten mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine Angliederung an Russland und eine Sezession von der Ukraine. Das Ergebnis kam zustande, nachdem russische Truppen im Verein mit politischen und paramilitärischen Gruppen das Land unter ihre Kontrolle gebracht, die ukrainischen Truppen vertrieben und die freien Medien ausgeschaltet hatten. Vorgeblich geschah das, um die Krim vor dem Zugriff der angeblich rechtsradikalen Regierung in Kiew zu retten.

Das Versprechen der russischen Regierung war folgendes: Die Krim wird (siehe Potemkin) ein Land der blühenden Zivilisation werden. Ein Vorzeigeland. Ein Russland quasi mit Turboantrieb statt Adlerflügeln. Die Daten dazu haben die Ökonomen Putins gleich mitgeliefert. Sieben bis acht Prozent jährliches Wirtschaftswachstum sind geplant -das Ergebnis der projektierten nationalen Kraftanstrengungen, sprich Investitionen von staatlicher und privater Seite. Tourismus, Industrie und Landwirtschaft sollten dabei die Wachstumsmotoren sein. Die Krim sollte eine Freihandelszone werden, begünstigt durch Vorzugskredite und staatliche Vergünstigungen. Werften, Fischfabriken, Hotels -errichtet mit über 20 Milliarden Dollar staatlicher Investitionen -das waren die Regierungsversprechen.

Keine gesicherte Grundversorgung

Das Projekt Krim hinkt weit hinter diesen Versprechen her. Schon wenn es um die Grundversorgung geht, bleibt von der behaupteten Größe kaum etwas übrig. Julia Kuszir von der Universität Bremen listet schwere Mängel auf. So erhält die Krim 85 Prozent ihres Wassers aus der Ukraine. Seit Mai 2014 sind die Wasserlieferungen aufgrund des Krieges eingestellt. Das bedeutet, dass die Wasserversorgung der Krim laut Regierungsangaben nur bis April gesichert ist.

Auch der Strom kam bisher zu 80 Prozent aus der Ukraine. Mit dem Krieg schrumpfen diese Lieferungen kontinuierlich. Zudem sind die Leitungen meist mehr als 60 Jahre alt. An einen -wie im Wirtschaftsplan vorgesehenen -wachsenden Energiebedarf durch mehr Industrie und mehr Verbrauch in der Wirtschaft ist derzeit also nicht zu denken. Die zwei zusätzlich geplanten Wärmekraftwerke, sind noch nicht einmal im Bau.

Noch viel schwerwiegender scheint die beinahe völlig fehlende Infrastruktur gegen jeden Aufschwung zu wirken. Seit 2010 gibt es Pläne, eine Brücke über die Straße von Kertsch zu bauen, die eigentlich schon seit 2014 in Betrieb sein sollte. Doch die Arbeiten haben noch nicht einmal begonnen. Kein Wunder: das Projekt soll über drei Milliarden Dollar kosten -es ist das bisher teuerste Infrastrukturprojekt Russlands im 21. Jahrhundert. Alle Mittel dafür sollen unter anderem aus dem regionalen Entwicklungshaushalt Russlands kommen, wodurch Förderungen für andere Straßenprojekte um 50 Prozent gekürzt werden müssen und die Förderung 16 weiterer Regionen aufgegeben werden müsste. Die Autorin ortet eine "spürbare Belastung" für die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes durch das Krim 2020 -Programm und eine langfristige "Abhängigkeit von Wasser-und Stromlieferungen aus der Ukraine".

Ebenso fragwürdig ist auch das Versprechen von der Freiheit der Krim-Bürger unter der neuen Schirmherrschaft Russlands. Der Europarat hat in einer Untersuchung der Menschenrechtssituation auf der Halbinsel eklatante Mängel der Rechtsstaatlichkeit und der Bürgerrechte festgestellt. Der Bericht des Europarat-Menschenrechtskommissars Nils Muiznieks führt eine Liste von Fällen auf. Da ist von Unterdrückung von Minderheiten - vor allem der Krimtataren - die Rede, von der Einschüchterung von Journalisten, der Abschaltung aller unabhängigen Medien durch die örtlichen "Selbstverteidigungskräfte", von unaufgeklärten Entführungen und Morden von politischen Gegnern und von der Einschränkung der ukrainischen Sprache an den Schulen. Ganz zu schweigen von den unaufgeklärten Misshandlungen und Ausweisungen von Menschrechtsaktivisten.

So bleibt nach einem Jahr ein sehr unharmonisches Bild vom Herzstück von Neurussland zurück, wesentlich düsterer, als es die russische Regierung darstellt: Statt einem Wirtschaftsboom steigt die Gefahr von Versorgungsengpässen, die angebliche Befreiung von der faschistischen Diktatur führt zu weniger Medienfreiheit und freier Meinungsäußerung. Wenn freilich allein der Pathos zählen würde, die Bewohner der Krim müssten sich glücklich schätzen. Präsident Wladimir Putin nennt die Krim schon jetzt die "Perle des Imperiums" und den "Tempelberg" des russischen Volkes. Insofern hat sich seit über 200 Jahren sehr wenig verändert. Zarin Katharina sagte 1787 in einer Replik auf die Schmähungen der "potemkinschen Dörfer":"Die ausländischen Journalisten haben während unserer Reise viel erfunden. Mögen jene, die es nicht glauben, hingehen und sich die neuen Straßen ansehen, die dort gebaut wurden."

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