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Kritische Gastarbeiter

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150.000 jugoslawische Gastarbeiter sowie hunderttausende Menschen, die nach dem zweiten Weltkrieg aus wirtschaftlichen Gründen nach dem Westen geflohen sind, waren nicht imstande, noch sind sie es heute, sich eine menschenwürdige Existenz in ihrer jugoslawischen Heimat aufzubauen. Da 40 Prozent der Arbeiter Jugoslawiens nicht die Möglichkeit haben, mehr als 20.000 Dinar monatlich zu verdienen, machen viele von ihnen, besonders jüngere Jahrgänge, von der „Öffnung nach Europa” Gebrauch.

Eine Enquete hat aufschlußreiche Resultate ergeben. 70 Prozent der jugoslawischen Arbeiter in der deutschen Bundesrepublik haben erklärt, daß sie ihre Heimat wegen zu geringen Verdienstes verlassen haben. Das heißt, daß diese 150.000 Menschen sowie hunderttausende Flüchtlinge und eine Viertelmillion Arbeitslose bisher keine Möglichkeit gesehen haben, in ihrer „Heimat des Sozialismus” eine Familie zu gründen oder zu erhalten. Die niederen Einkommenszahlen pro Kopf und die hohen Preise der Lebensmittel (ein Kilogramm Fleisch kostet 900 bis 1000 Dinar, ein Kilogramm Brot 100 bis 200 Dinar, ein Liter Milch 60 bis 80 Dinar, ein Kilogramm Weizen 47 bis 60 Dinar) besagen nur, daß es den Menschen im sozialistischen Jugoslawien nicht besser als den Proletariern in Spanien, Griechenland und manchen Gebieten Italiens geht.

Der Blick wird geschärft

Aber diese „Öffnung nach Europa”, diese Möglichkeit, im Westen Geld zu verdienen, wirft für die jugoslawische Regierung nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Fragen auf. Die in Westeuropa tätigen Arbeiter werden noch kritischer in der Wertung der Verhältnisse in der Heimat. Sie sind unter Umständen noch gefährlicher als Emigranten, da sie nach einem, zwei oder vier Jahren wieder in die Heimat zurückkehren. Das Kennenlernen des hohen Lebensstandards des Westens wird viele von ihnen zu Vorkämpfern eines besseren und „freieren” Lebens in ihrer Heimat machen. Schon jetzt macht sich das die Sozialistische Partei Kroatiens zunutze. So kann das System die schon in Fluß geratene Bewegung nicht mehr aufhalten. Es müßte zuerst die Verhältnisse zum Beispiel in bosnischen Betrieben abschaffen, wo, wie „Borba” vom 13. August 1964 berichtete, ein Großteil der Arbeiter nur 12.000 bis 13.000 Dinar verdient. Die Verantwortlichen werden zuerst die schlechte Lage zum Beispiel im jugoslawischen Bergbau beseitigen müssen, wo etwa 10.000 Bergarbeiter fehlen und wo der Durchschnittsverdienst nur 18.000 Dinar beträgt. Durch die Entscheidung des Bundesexekutivrates vom 17. Juni 1964 ist den Arbeitern eine Lohnerhöhung von 1500 Dinar zugesprochen worden. Da aber mit demselben Beschluß auch die Preise für Landwirtschaftsprodukte, für die elektrische Energie sowie für Kohle und andere Güter erhöht wurden, handelt es sich lediglich um eine Flucht in die Inflation. Diese neuen Maßnahmen werden eine noch größere Kluft zwischen dem Volk und dem Regime schaffen, und der Fremdarbeiterstrom nach dem Westen wird vorläufig noch zunehmen.

Serben unterwandern Kroatien

Besondere Sorge macht die Arbeiterflucht nach dem Westen in Kroatien. Denn in die Lücken schleust die Regierung bewußt serbische Arbeiter. Und auch deswegen sehen sich manche kommunistische Kroaten veranlaßt, Kroatien wirtschaftlich mehr autark zu machen. Gerade heuer entwerfen die zuständigen Stellen langfristige Programme, durch die der weitere Aufbau des Seewesens und des Tourismus sowie der Ausbau der Straßen forciert werden sollen.

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