6905966-1980_44_06.jpg
Digital In Arbeit

Sprengsatz im Vielvölkerstaat

19451960198020002020

Jugoslawien trudelt immer stärker in eine Wirtschaftskrise, die nicht ohne politische Folgen zu bleiben droht. Nicht der Tod Titos, sondern die ökonomische Misere könnte sich als der gefährlichste Sprengsatz für den Vielvölkerstaat erweisen.

19451960198020002020

Jugoslawien trudelt immer stärker in eine Wirtschaftskrise, die nicht ohne politische Folgen zu bleiben droht. Nicht der Tod Titos, sondern die ökonomische Misere könnte sich als der gefährlichste Sprengsatz für den Vielvölkerstaat erweisen.

Werbung
Werbung
Werbung

In der serbischen Stadt Cacak schlug eine erregte Menge Schaufensterscheiben ein, zerstörte die Inneneinrichtung von Supermärkten und prügelte sich um die restlichen Warenbestände, so daß schließlich die Miliz eingreifen mußte. Es gab zahlreiche Verletzte.

In Rijeka wurde der Geschäftsführer eines Supermarktes nach einer tumul-tös verlaufenen Gerichtsverhandlung, bei der Publikum in seiner Empörung vom Richter kaum gedämpft werden konnte, zu einem Jahr Gefängnis unbedingt verurteilt. Grund: Er hatte 930 Kilogramm Waschpulver gehortet, anstatt die Mangelware zum Verkauf anzubieten.

Bilder aus Jugoslawien, wo die seit Jahren andauernde Wirtschaftskrise nun auch in eine spürbare Versorgungskrise für die Bevölkerung umgeschlagen ist, wie es sie seit Kriegsende nicht mehr gegeben hat

Es fehlt - wie die Geschäftsleute im südsteirischen Radkersburg von ihren jugoslawischen Kunden wissen - vor allem an Kaffee, Speisepl, Fleisch, Waschpulver, Kohle, Medikamenten und Zucker.

Seit dem 1. September ist man in Teilen Jugoslawiens (in Serbien, in Bosnien/Herzegowina und in Kosovo) dazu übergegangen, Lebensmittelkarten bzw. Bezugsscheine für den Kauf bestimmter Waren an die Bevölkerung auszugeben. Ein anderes System sieht die Registrierung von Namen bei den örtlichen Supermärkten vor. Und nur in jenem Supermarkt, wo der Bürger registriert ist, darf auch dann eine kontigen tiertc Menge verschiedener Waren eingekauft werden.

Die Stellungnahmen zur Einführung vpn Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen, die von Lokal- und Landesbehörden verteidigt wird, sind jedoch von seiten der Partei, der Gewerkschaften und anderer Organisationen mit Kritik bedacht worden.

So giftete sich das Parteiblatt „Borba": „Bezugsscheine sind ein Ausdruck der Armut sowie der Ohnmacht, tatsächliche Lösungen zu finden." Die rationierte Zuteilung von Bedarfsgütern an die Bevölkerung stehe im Widerspruch zu den Grundlagen des jugoslawischen „Selbstverwaltungssozialismus" und folge der „Logik eines anderen Systems", nämlich dem Kommunismus Moskauer Prägung.

Der jugoslawische Gewerkschaftsbund kündigte einen „gnadenlosen Kampf gegen das Bezugsscheinsystem an und meinte: „Das ist nicht der Weg, nicht die Form, nicht die adäquate Art, um die Versorgung des Marktes zu gewährleisten."

Aus all dem erhellt sich freilich nur, daß die ökonomische Krise bereits in Ansätzen zu einer politischen wird.

Die jugoslawische Führung erweist sich gegenüber der Wirtschaftsmisere als ziemlich hilflos. Alle bisher getroffenen Maßnahmen erwiesen sich als Bumerang. Staatlich festgesetzte Preise (auch hier ein Rückgriff auf das osteuropäische Wirtschaftssystem!) führten

nur dazu, daß sich neben dem offiziellen Markt zwei weitere Märkte entwik-kelten: Einer, auf dem man nur gegen Devisen verkauft, ein anderer, völlig illegaler, auf dem Schwarzmarktpreise Angebot und Nachfrage regeln.

Die verfügten Importbeschränkungen, um die total außer Kontrolle geratende Leistungsbilanz zu stabilisieren, hatten katastrophale Nebeneffekte: Wegen Mangels an Rohstoffen und Ersatzteilen müssen Produktionen stillgelegt werden, wegen Mangels an Papier wurden Zeitungen eingestellt, wegen Mangels an Medikamenten können Chirurgen nur noch unbedingt nötige Operationen ausführen.

Die Frage ist, wie lange sich Jugoslawiens Bevölkerung und Werktätige noch Versorgungsmängel und solche wirtschaftlichen Schildbürgerstreiche, verübt von den Tito-Erben, gefallen lassen werden. Die Parteizeitung „Poli-tika" ortete erst unlängst bereits „Anzeichen gesellschaftlichen Unmuts".

Politische Folgewirkungen haben kann auch, daß die Wirtschaftsmisere sich nicht gleichmäßig auf ganz Jugoslawien verteilt. Wie schon seit 20 Jahren produziert das 2-Millionen-Volk der Slowenen weitaus mehr als alle vier Millionen Einwohner Mazedoniens, Montenegros und Kosovos zusammen. Die Kroaten produzieren weitaus mehr als die zahlenmäßig überlegenen Einwohner des Inneren Serbiens.

Schon der Umstand, daß das Nationalprodukt im äußersten Norden des Landes acht- bis zehnmal höher liegt als im äußersten Süden, muß nationale Spannungen begünstigen, die sich in einer wirtschaftlichen Krisensituation noch verschärfen.

Politische Rückwirkungen sind schließlich auch zu erwarten, wenn man die Entwicklung der jugoslawischen Export-Import-Struktur betrachtet. So schrumpften Jugoslawiens Importe aus dem Westen doppelt so schnell wie aus dem Osten Europas, wuchsen Jugoslawiens Exporte in den kommunistischen Osten fast dreimal so schnell wie in die westlichen Industriestaaten.

Schlußendlich schwächt die Wirtschaftskrise (fast 30 Prozent Inflation, Auslandsverschuldung 17 Milliarden Dollar, ein voraussichtliches Zahlungsbilanzdefizit von rund 3 Milliarden Dollar im heurigen Jahr) auch die Verteidigungskraft des Landes.

Wegen des Kerosinmangels sind die Ubungs- und Uberwachungsflüge der jugoslawischen Luftwaffe erheblich eingeschränkt worden, in den Einheiten wurde ein „Rat für Spar- und Rationalisierungsmaßnahmen" eingerichtet und ein „Sparbuch" angelegt, in dem sorgfältig registriert wird, welche unnötigen Ausgaben und welche erfreulichen Einsparungen man vornehmen konnte.

Jugoslawiens Wirtschaftskrise, deren Ende nicht abzusehen ist, scheint umfassend den Bestand des Vielvölkerstaates zu gefährden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung