"Unerträglich und martialisch“

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Viktor Orbán ist unbesiegbar und wird nach seiner Wiederwahl die autoritäre Ordnung in Ungarn fortsetzen, sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás.

Der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás wurde 1948 im rumänischen Cluj-Napoca geboren. Als Mitglied der ungarischsprachigen Minderheit und Gegner des Ceaucescu-Regimes musste er das Land 1978 verlassen. Er ging nach Ungarn, wo er sich der demokratischen Opposition gegen das kommunistische Regime anschloss.

DIE FURCHE: Warum wird Viktor Orbán wiedergewählt?

Gáspár Miklós Tamás: Er ist ein begabter Politiker und guter Redner. Er hat einen Sozialstaat für den Mittelstand errichtet. Es gibt zwei bis drei Millionen Ungarn, die die positiven wirtschaftlichen Konsequenzen seiner Politik wirklich spüren. Die sind auch die Wähler. Die Parolen sind auf sie zugeschnitten.

DIE FURCHE: Wer kann Orbán schlagen?

Tamás: Niemand. Das sind wirklich merkwürdige Wahlen. Es gibt drei rechte Parteien: die Nationalkonservativen, die an der Regierung sind, also Fidesz, dann gibt es die halbfaschistische Jobbik und die neoliberale Opposition. Man soll nicht vergessen, dass Tausende Intellektuelle, Beamte und Experten entlassen wurden. Es gibt eine Verschiebung der Macht.

DIE FURCHE: Sie sprechen von einer unfreien Gesellschaft

Tamás: Natürlich, weil die unabhängigen Medien die Mehrheit der Bevölkerung nicht erreicht. Es gibt nur ein Medium, das das ganze Land bespielt, nämlich Kussuth Radio, das auch von den alten Bauern gehört wird. Es verliert kein einziges Wort darüber, was in diesem Land passiert ist. Und der Nationalstolz wird erfolgreich verteidigt gegen mysteriöse ausländische Kräfte.

DIE FURCHE: Was den Nationalstolz betrifft, hat Fidesz ja Konkurrenz von der rechtsextremen Jobbik

Tamás: Jobbik spricht unterschiedliche Klientel an. Da sind die traditionellen Nationalisten, die Siebenbürgen zurückhaben wollen und den autoritären Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy als Prachtkerl feiern. Der ältere Mittelstand liebt das. Dann gibt es das jüngere Publikum, das die Neonazi-Parolen und faschistische Rockbands mag. Diese Leute sind tätowiert, homophob und hassen alle mit einer anderen Hautfarbe. Und schließlich gibt es die Naiven in den ärmsten Gegenden, die glauben, dass der Sozialstaat schlecht ist, weil sie ihn mit den "Zigeunern“ teilen müssen. Darum sind sie gegen die linksliberalen Parolen, die man manchmal von der offiziellen Opposition hört. Sie haben unpopuläre Ansichten. Sie sind pro EU, pro Westen, pro Banken, pro Markt, gegen Antisemitismus.

DIE FURCHE: Was passiert, wenn Orbán wiedergewählt wird?

Tamás: Ich glaube, dass diese autoritäre Ordnung fortgesetzt wird. Dieser Geist ist auch in den Schulbüchern zu sehen, wo die Hunnen und Skythen als unsere Vorfahren heroisiert werden. Wir seien die Urenkel von Hunnenkönig Attila. Die Kinder nehmen das zwar nicht ernst. Aber diese offizielle Kultur ist ganz unerträglich und martialisch. Ich sehe eine Gefahr, wenn eine neue Generation denkt, es gibt keinen parlamentarischen Ausweg aus dieser Situation.

DIE FURCHE: Manche Leute beobachten eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft.

Tamás: Es gibt keine organisierte Zivilgesellschaft und keinen Widerstand. Die Kirchen sind schwach, die Gewerkschaften auch. Die katholische Kirche war immer ein Fremdkörper ohne tiefe Wurzeln. Die Mehrheit der ungarischen Calvinisten leben heute jenseits der Grenzen. Was heißt es heute, ein Magyar zu sein? Ein Magyar ist kein Zigeuner, also ein "Weißer“. Was heißt es, ein Christ zu sein? Kein Jude. Das sind negative Definitionen. Eine echte Kohäsion können sie nicht bieten. Sogar viele sprechen von den "Ungarn“ als den anderen.

Fehlender Widerstand

In Ungarn gibt es keine organisierte Zivilgesellschaft und keinen Widerstand. Die rechten Parteien punkten mit Nationalismus, währenddessen gehen die linksliberalen Parolen der Opposition unter. Denn Antisemitismus, pro Westen, pro EU und pro Märkte kommen in der Bevölkerung nicht gut an.

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