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Denkwege mit Edmund Husserl

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In den Vorlesungen an der Yale Uni-versity geht Kolakowski der Frage Husserls, des Begründers der phänomenologischen Forschung in der Philosophie, nach: Ist objektive Gewißheit der Erkenntnis möglich, obwohl der Erkenntnisakt und seine Inhalte in biologischer und historischer Hinsicht analysiert werden können? Oder: Gibt es eine Kontinuität, die sich jenseits der einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse durchhält?

Diese Grundfrage der Philosophie hat längst ihre Unschuldigkeit eingebüßt. Sie ist geradezu i zur Existenzfrage für die Philosophie geworden. Nicht mehr geht es darum, biologische und historische Abhängigkeiten des Menschen zu bezweifeln, sondern darum: Ist der Skeptizismus die einzige Möglichkeit, auf der Erkenntnisebene mit diesen vielen Abhängigkeiten fertig zu werden? Ist der Versuch einer Wesenseinheit grundsätzlich zum Scheitern verurteilt?

Husserl hat es gewagt, von Wesensgesetzlichkeiten zu sprechen. Mit seinem doppelten Programm „Zu den Sachen selbst“ und „Auffassung der Philosophie als strenge Wissenschaft“ hat er sich jedem Skeptizismus entgegengestellt Es geht ihm um eine Uberwindung der Fixierung an Wissenschaftlichkeit auf dem Wege der Wissenschaft Eine neue Unmittelbarkeit soll aufgedeckt werden. Diese Unmittelbarkeit ist das Ergebnis der Einklammerung aller Selbstverständlichkeiten des Alltags und der wissenschaftlichen Weltauffassung, in erster Linie der Existenz von Welt und Subjekt.

Kolakowski zeigt nun, daß die Reinigung des Bewußtseins ihre Grenzen hat zumindest im Hinblick auf sprachliche Verständigung über das Resultat dieses Reinigungsprozesses. Husserls Methode leidet darunter, daß die intendierte Wesenseinheit sprachlicher Mitteilung letztlich verschlossen bleibt. Wir haben „noch keine universell gültigen Kriterien, bedeutungsvolle Strukturen zü erfassen“. So weist die Phänomenologie in das Reich der Mystik. Das ist nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Aber es ist nicht das, was Phänomenologie wollte: auf

dem Wege strenger Wissenschaftlichkeit Wesenseinsichten gewinnen. Hus-serl selbst hat ja gegen Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit von dem ausgeträumten Traum, Philosophie als strenge Wissenschaft konzipieren zu können, gesprochen.

Warum aber Husserls Methode dennoch interessiert? Ist es nur der lange Abschied von der Philosophie, die die Welt auf dem „Ich denke“ aufgebaut hat? Husserls Methode weist auch voraus: Das Bewußtsein konstituiert sich, indem es Objekte konstituiert. Die vom Idealismus behauptete Trennung der Welt des Denkens und der faktischen Wirklichkeit ist überwunden. Die Sprache versagt aber - sie preßt die faktische Wirklichkeit in die Welt des Denkens, der Identität oder setzt die Welt als ein großes Laboratorium der Gedankenexperimente. Wir sind außerstande, das Bewußtsein als übergreifende Verpflichtung aufzufassen, den Anderen als Anderen anzuerkennen. Solange der Andere nur als Varia-

tion meines Bewußtseins gedacht wird, haben wir nicht den Ort erreicht, der zu einer neuen Bewußtseinslage veranlaßt. Husserls Denken zeigt die Grenzen unseres Sprechens, aber auch unseres Strebens nach Gewißheit. Es ist nicht wenig, zu wissen, daß das Ziel, zu dem die moderne Wissenschaft zumindest programmatisch unterwegs war, nicht mit Mitteln der Wissenschaft zu erreichen ist.

Kolakowskis Verdienst ist es, in diesen Vorlesungen'das dem Nichteinge-weihten zumeist verschlossene Gebiet der Phänomenologie in seinen Möglichkeiten und Grenzen für unsere heutige Diskussion klar dargestellt zu haben.

DIE SUCHE NACH DER VERLORENEN GEWISSHEIT. Denkwege mit Edmund Husserl. Von Leszek Kola-kowski. Aus dem Englischen von J. Söring. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1977, 100 Seiten. öS 140,40.

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